Und kurz ist unser Leben
- Rowohlt
- Erschienen: Januar 2000
- 8
- London: Macmillan, 1999, Titel: 'The Remorseful Day', Seiten: 384, Originalsprache
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2000, Seiten: 380, Übersetzt: Ute Tanner
Colin Dexter glänzt auch im letzten Morse-Roman noch einmal mit feinem britischen Humor
Im Sommer des Jahres 1998 macht Chief Inspector Morse von der Thames Valley Police ein paar Tage Urlaub. Dort erhält er unerwarteten Besuch: Sein Vorgesetzter, Chief Superintendant Strange, bittet ihn dringend, einen alten Mordfall zu übernehmen. Ein Jahr zuvor fand man die Krankenschwester Yvonne Harrison ermordet in ihrem Bett - nackt, mit Handschellen gefesselt und erschlagen. Der ungeklärte Fall läßt Strange, dessen Pensionierung ansteht, keine Ruhe.
Morse winkt ab und schützt Krankheit vor. Als Strange beharrt, verweigert Morse ihm offen den Gehorsam. Strange lenkt erstaunlicherweise ein und überträgt den Fall Sergeant Lewis, Morses langjährigem Mitarbeiter. Dieser sieht sich einer langen Liste von Schwierigkeiten ausgesetzt. Schon vor einem Jahr konzentrierte sich die Fahndung auf die Familie der Toten. Ehemann Frank, Investmentdirektor einer großen Londoner Bank, Simon, der hörbehinderte Sohn, und Sarah, Ärztin in dem Diabetiszentrum, in dem auch der zuckerkranke Morse Patient ist, schienen der Polizei aus verschiedenen Gründen verdächtig, doch nachgewiesen werden konnte ihnen nichts. Lewis bemüht sich, die längst erkaltete Spur aufzunehmen.
Morse, den die Ratlosigkeit des alten Freundes rührt, gibt ihm widerwillig einige Tipps. Bei seinen Nachforschungen entdeckt Lewis verblüfft, dass sein Vorgesetzter ungeachtet der Beteuerungen, mit dem Fall Harrison nichts zu tun haben zu wollen, halb private Ermittlungen durchführt. Lewis ist frustriert, denn Morse ist ihm stets einen Schritt voraus. Außerdem entdeckt er Hinweise, die Morse in Verbindung mit Yvonne Harrison bringen - er hatte offensichtlich ein Verhältnis mit ihr, und das möchte er unbedingt verborgen halten ...
Wie zufällig finden Morse und Lewis wieder zusammen. Der Chief Inspector wartet mit neuen Erkenntnissen auf: In der Mordnacht haben drei Zeugen das Haus der Harrisons beobachtet. Sie könnten die Alibis der Angehörigen erschüttern. Aber auch der Mörder hat erfahren, dass man ihm (oder ihr) auf die Spur zu kommen beginnt. Die Polizei findet zwar ihre Zeugen - sie werden alle binnen kurzer Zeit umgebracht, ohne ihr Wissen preisgeben zu können!
Während Lewis weiter an der "Front" ermittelt, macht sich Morse daran, die zahlreichen echten und falschen Spuren zu sortieren und zu ordnen. Er findet die Lösung und macht sich daran, sie niederzuschreiben - da streckt ihn ein Herzinfarkt nieder. Im Krankenhaus müssen die Ärzte feststellen, dass Morses Herz irreparabel geschädigt ist. Kurze Zeit darauf stirbt der Chief Inspector. Einem völlig aus der Fassung gebrachten Sergeant Lewis obliegt es, den Mordfall Harrison, der zu Morses Vermächtnis wurde, abzuschliessen.
In der Geschichte des Kriminalromans kam es schon häufig vor, dass ein Autor seines Helden überdrüssig wurde. Selten ist er (oder sie) allerdings so konsequent, diesen deswegen gleich umzubringen. Niemand schlachtet gern die Gans, die goldene Eier legt - und wie groß ist die Chance, mit einem anderen Helden jemals wieder so erfolgreich zu werden? So schleppt sich so manche Serie dahin, nachdem ihr die Luft längst ausgegangen ist, während eine andere ruht oder still ausläuft, sobald ihr Schöpfer das Zeitliche segnet. Mancher Held überlebt seinen Schöpfer sogar - Nero Wolfe hat sich beispielsweise selbst einen neuen "Vater" gesucht.
Arthur Conan Doyle hat versucht, sich seines Sherlock Holmes´ zu entledigen, doch die Empörung seiner Leser (sowie eine Menge Geld) veranlassten ihn, den genialen Detektiv aus der Baker Street wieder auferstehen zu lassen. Agatha Christie ließ den "Letzten Vorhang" über Hercule Poirot fallen, doch sie wartete lieber damit lieber, bis sie selbst gestorben war. Nicholas Freeling wagte es offen; sein Inspektor Van der Falk starb, von Kugeln durchsiebt: ein "Arbeitsunfall". Mannhaft ertrug Freeling die Wellen der Zorns, die gegen seinen Schreibtisch brandeten. Als sie sich legten, hatte er endlich seine Ruhe.
Der Schock, der durch das britischen Krimi-Publikum ging, als es erfahren musste, dass Colin Dexter seinen Inspector Morse sterben lässt - und das definitiv; ein Hintertürchen gibt es nicht -, war ungleich größer. Was dem "echten" Morse Schauer des Schreckens über den Rücken gejagt hätte, ist ihm inzwischen zugestossen: Er ist zum Volkshelden geworden. Das kann man in Deutschland schwer nachvollziehen, denn hier fehlt der eigentliche Katalysator des Morse-Mythos: die unerhört erfolgreiche TV-Serie, die sich in England über die Jahre zu einem Straßenfeger entwickelt hat.
Dem Fernsehen wird denn auch die Hauptschuld am Tode des beliebten Inspectors gegeben. Hätte es Autor Dexter nicht so gut bezahlt, könnte er sich nun noch nicht zur Ruhe setzen, sondern würde sich weiter fleißig neue Morse-Abenteuer ausdenken, grollt Volkes Stimme. Allem Zorn und Kummer zum Trotz gibt es jedoch mindestens zwei gewichtige Argumente, die Colin Dexters Entschluss verständlich erscheinen lassen. Er ist nun 70 Jahre alt geworden und kann durchaus auf das Privileg pochen, sich in den Ruhestand zurückzuziehen. Andererseits sterben Schriftsteller üblicherweise mit der Feder in der Hand, was uns zu Punkt 2 bringt: Dexter fällt nichts mehr ein zu der Figur, die ihn reich und berühmt machte - und wirklich: Dieser 13. und letzte Band trumpft noch einmal mächtig auf, doch es läßt sich nicht mehr leugnen, dass der Höhepunkt überschritten und die Figur des Endeavour Morse bis in den letzten Winkel ausgelotet ist.
Dasselbe trifft auf Sergeant Lewis zu. Dexter könnte das Duo natürlich noch eine ganze Weile knifflige Fälle lösen lassen, die indes nach dem inzwischen bekannten und beliebten Schema ablaufen würden. Den meisten Lesern würde dies wahrscheinlich genügen, aber Dexter hält sich an den Spruch, nach dem man aufhören soll, wenn´s am schönsten ist. Er hat es gerade noch geschafft, und so bleibt neben der Trauer die Erinnerung an eine Serie, die über mehr als ein Dutzend Bände ihr konstant hohes Niveau halten konnte. So betrachtet ist Inspector Morse auch nicht wirklich tot: Im Bücherschrank jedes Krimi-Afficionados lebt und murrt er weiter.
Dem traurigen Anlaß angemessen, liegt über "Und kurz ist unser Leben" ein Hauch von Melancholie und Abschiedsstimmung. Morse ist gesundheitlich angeschlagen, die Grenze zum Alkoholismus hat er endgültig überschritten, und mehr als einmal äußert er kaum verhüllte Todesahnungen. Seinen Kollegen bleibt dies nicht verborgen. Sergeant Lewis bringt es auf den Punkt, als er bemerkt: "Es ist ihm alles nicht mehr so wichtig."
Dennoch glänzt Colin Dexter auch im letzten Morse-Roman noch einmal mit feinem britischen Humor. Köstlich ist Morses behagliche, in ihrer Trockenheit um so stärker wirkende Diskussion mit dem Leiter der örtlichen Müllverwertungsanlage, wie man am besten eine Leiche in einer Müllpresse entsorgt. Auch der arme Lewis muss noch einmal unter den genialen Attacken seines unberechenbaren Chefs und Freundes leiden: Er fühlt sich wie der fabelhafte Hase, der bei seinem Wettlauf mit dem Igel feststellen muss, dass dieser stets vor ihm am Ziel angekommen ist. Morse bleibt Morse - bis zum Ende; es bleibt ihm sogar die Zeit, sich über die in seinen Augen mangelnde Begeisterung jener Mediziner zu ärgern, denen er seinen Körper zu Forschungszwecken vermacht.
Es fehlt auch nicht die für Dexter typische Galerie skurriler Nebenfiguren, von denen Simon, der Sohn der ermordeten Krankenschwester, besonderes interessant ist, wenn man weiss, dass sich in seiner Person ein besonderes Anliegen des Autors manifestiert: Wie Simon Harrison ist Colin Dexter schwer hörbehindert. Es ist ihm gewissermaßen ein Herzensanliegen, auf die alltäglichen Schwierigkeiten eines tauben Menschen hinzuweisen. Dexter macht dies nicht zum ersten Mal: Mit Die schweigende Welt des Nicholas Quinn schrieb er sogar einen ganzen Morse-Krimi über diese Thematik.
Der Kriminalfall Harrison droht dagegen manches Mal in den Hintergrund zu geraten. Das liegt aber nicht daran, dass Dexter sich mit dem Plot weniger Mühe gegeben hat als sonst; es ist so kompliziert und gleichzeitig sauber entwickelt wie immer. Aber auch Dexter konnte nicht verhindern, dass die Kriminalgeschichte stark an Bedeutung verliert, sobald Morse sein tragisches Ende ereilt.
Ein Lob sei einmal mehr der deutschen Übersetzung gezollt, die den leichten, ironischen, aber immer wieder ins Ernsthafte umschlagenen Tonfall der Vorlage getroffen hat. Nicht überlebt hat leider das schöne Wortspiel des Originaltitel: "The Remorseful Day" ließe sich wahrscheinlich am Besten mit "Der Tag der Reue" übersetzen. Er erfaßt perfekt beide Aspekte des Romans: die Aufklärung eines halbvergessenen Mordfalls wie die Chronik der letzten Tages des Inspector Morse. Ihn unter einem Titel enden zu lassen, der offenbar Assoziationen an die grauenvollen, sich aber wie Schnittbrot zu verkaufenden Elisabeth George-Schwafel-Krimi-Seifenopern wecken soll - das hat er nicht verdient!
Colin Dexter, Rowohlt
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