Das Rätsel der dritten Meile
- Rowohlt
- Erschienen: Januar 1987
- 4
- London: Macmillan, 1983, Titel: 'The riddle of the third mile', Seiten: 224, Originalsprache
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1987, Seiten: 221, Übersetzt: Marie S. Hammer
Eine Leiche zu viel - oder zu wenig?
Ungern denkt Chief Inspector Morse von der Thames Valley Police an seine Studienzeit in Oxford zurück. Am Lonsdale College hatte er klassische Philologie belegt und galt als hoffnungsvoller Nachwuchswissenschaftler, bis eine unglückliche Liebe ihn aus der Bahn warf und er die Universität verlassen musste - eine Schmach, die ihm bis heute nachgeht.
Trotzdem kehrt er an den Ort seiner Niederlage zurück, als ihn der Rektor, ein alter Bekannter, bittet, diskret den Verbleib eines Dozenten zu ermitteln. Dr. Browne-Smith, sonst ein Mann, dem Vorschriften über alles gehen, ist vor einigen Tagen nach London gereist und nicht mehr an sein Lehrpult zurückgekehrt. Morse kennt Browne-Smith gut, denn der war einst auch sein Dozent.
Als kurz darauf eine kopf-, arm- und beinlose und daher nicht zu identifizierende männliche Leiche aus dem Oxford-Kanal gezogen wird, kommt Morse ein naheliegender Verdacht. Einige Tage später flattert dem Chief Inspector indes ein Schreiben auf den Schreibtisch, in dem Browne-Smith nicht nur sein Fortleben, sondern auch den Mord an dem Mann im Kanal gesteht. Dieser habe ihn in eine Falle locken wollen, der er, Browne-Smith, entkommen sei und den Spieß umgedreht habe.
Während Sergeant Lewis, sein viel geplagter Assistent, den Fall für geklärt hält und auf die Fahndung nach dem flüchtigen Dozenten drängt, bleibt Morse skeptisch. Wer ist der namenlose Tote wirklich? Es gibt inzwischen zwei Kandidaten - oder ist es doch Browne-Smith, der im kalten Wasser sein Ende fand? Stück für Stück enthüllt Morse ein ganzes Bündel vertrackt eingefädelter Rache-Dramen, die ihren Ursprung offenbar 1942 während der Wüstenschlacht von El Alamein nahmen ...
Warum einfach, wenn's umständlich umso unterhaltsamer ist?
"Das Rätsel der dritten Meile" ist eine Art Apotheose des (klassischen) Krimis. Zu diesem enthusiastischen Urteil kommt man leicht; man vergleiche diesen Roman nur mit dem, was derzeit die Regalbretter der deutschen Buchhandlungen sich biegen lässt: Seifenoper-/Historien-Pseudo-Krimis und Splatter-Action-Thriller der eindimensionalen Art. Lesen ohne Nachdenken ist nicht nur möglich, sondern fast schon Pflicht.
Anno 1983 war dies offenbar anders. Wie sonst ließe sich der sechste Fall des außergewöhnlichen Chief Inspector Morse erklären, der unbekümmert jeglicher Vordergründigkeit eine elegante aber eindeutige Abfuhr erteilt und seine Leser mit einem der komplexesten und kompliziertesten Rätsel der modernen Kriminalliteratur konfrontiert? Schon der Titel ist eine Herausforderung: "Und wenn dich jemand zwingt, eine Meile mitzugehen, so gehe mit ihm zwei", spricht Jesus nach Matthäus (6, 41) in der Bergpredigt: Jeder Soldat aus dem römischen Heer, das Palästina zu seinen Lebzeiten besetzt hielt, hatte das Recht einen Bürger zu verpflichten, sein Gepäck eine Meile zu tragen. Das wurde als Demütigung betrachtet, die Jesus nunmehr in eine Chance umdeutete: Aus einer Zwangsverpflichtung mache einen Liebesdienst!
Zu dieser an sich und bereits ohne Erklärung schwer verständlichen Ableitung addiert Dexter ein weiteres Rätsel: Von einer dritten Meile spricht Jesus nicht. Sie ist eine Ergänzung des Verfassers, zu deren Verständnis man das biblische Vorbild nicht nur kennen, sondern auch interpretieren muss. Das ist riskant, will man zynisch urteilen, denn welches Publikum ist heute noch in der Lage oder gar bereit dazu?
Ein Krimi für das Milieu des Geschehens
Dexter stellt diese Frage nicht. Er geht davon aus, dass ihm eine nach fünf bemerkenswerten Inspector-Morse-Romanen zu Recht gewogene Leserschaft auch auf diesem intellektuellen oder besser: akademischen Weg folgen wird. "Das Rätsel der dritten Meile" erzählte eine der Realität bewusst enthobene Geschichte, die dem gewählten Milieu sorgfältig angepasst wurde. Sie führt in die Welt der Oxford-Colleges. Eine ganze Stadt wird quasi durch ihre Universitätsfakultäten definiert. Lonsdale ist sogar ein besonders abgeschirmter Elfenbeinturm: Hier studiert man Sprache und Literatur des antiken Altertums, was definitiv keine vorgestanzten Teilnehmer eines globalisierten Arbeitsmarktes hervorbringt. Dem Geist dieser Abgeschiedenheit entsprechend spricht man in Lonsdale eine eigene, der Vergangenheit verhaftete Sprache, was Dexter geschickt für eine Handlung nutzt, die von der Konfrontation zwischen ´Geist´ und ´Realität´ lebt.
Denn selbstverständlich sind die vergeistigten Bewohner von Lonsdale immer noch Menschen. Das gilt für die Studenten ebenso wie für die Dozenten, die deshalb ebenso nachtragend, selbstsüchtig oder geil sind wie ´normale´ Zeitgenossen; sie können es höchstens besser verbergen und ´begründen´, d. h. verschleiern, vermögen ihre Emotionen jedoch ansonsten schlecht zu kontrollieren. Auch gegen Irrtümer sind sie keineswegs gefeit.
"Das Rätsel der dritten Meile" ist deshalb die Geschichte eines Verbrechens, das unter die Intellektuellen fällt und darob zu einer so umständlichen Kriminaltat mutiert, dass es einerseits lange nicht entschlüsselt werden kann und es andererseits eines Kriminalisten bedarf, der die ´Sprache´ der Beteiligten beherrscht und sich in ihrem Kosmos auskennt.
Wanderer zwischen den Welten
Auftritt Chief Inspector Morse. Im vorliegenden sechsten Band der Serie enthüllt Colin Dexter ein bisher sorgfältig gehütetes Geheimnis seines ´Helden´. Bisher durfte man rätseln, wieso Morse, offensichtlich ein studierte Mann mit einer klassischen Bildung, aus der er nie einen Hehl macht, ausgerechnet Polizist geworden und unter seinem intellektuellen Stand geblieben ist. Morses private Oxford-Vergangenheit ist die Erklärung, sein akademisches Scheitern ein wichtiger Stein in dem Mosaik, das sein exzentrisches Wesen formt.
Folgerichtig geht Morse, der Polizist, wie ein Philologe oder Historiker vor, wenn er einen Fall löst. 1983 war das offenbar noch möglich oder Morse scherte sich nicht um den aktuellen Anfall offener Fälle. Er geht gleichzeitig systematisch und sprunghaft vor - ein Vorgehen, das paradox und im kriminalistischen Alltag fehl am Platz wirkt, andererseits jedoch intellektuelles Arbeiten kennzeichnet, weil es Grenzen ignoriert. Morse hat dieses Konzept auf die Polizeiarbeit übertragen. Damit operiert er in jenem Bereich, der Sergeant Lewis so fasziniert. Der ist ein ´klassischer´ Polizist, dem jede Fantasie in der Ausbildung ausgetrieben wurde. Morse lässt ihn begreifen, dass es außerhalb der Grenzen, innerhalb derer er sich bewegt, andere Welten gibt.
Lewis ist ein Mensch, der stabil in sich selbst ruht, was wiederum Morse neidisch macht, der nie zufrieden mit sich sein kann. Die erneute Anwesenheit im College führt ihm erst recht vor Augen, dass er ´versagt´ hat, obwohl er als ausgezeichneter Polizist gilt. Solche Anwandlungen kennt Lewis nicht, der zudem keine Konkurrenz für Morse darstellt. Deshalb ist Lewis tatsächlich der einzige echte Freund, den Morse hat; dies wird Dexter in den Bänden 7 bis 13 immer deutlicher herausarbeiten, die den Freunden des nicht nur klassischen, sondern richtig guten Kriminalromans ebenso wie die gesamte Morse/Lewis-Serie eindringlich ans Herz gelegt wird.
Colin Dexter, Rowohlt
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