Der Mordfall Drachen
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1935
- 5
- New York: Charles Scribner´s Sons, 1933, Titel: 'The dragon murder case', Seiten: 311, Originalsprache
- Leipzig: Goldmann, 1935, Titel: 'Der Drachenteich', Seiten: 223, Übersetzt: Hans Herdegen
- München: Goldmann, 1951, Titel: 'Der Drachenteich', Seiten: 219, Übersetzt: Hans Herdegen
- München: Heyne, 1972, Titel: 'Mordakte Drachensee', Seiten: 143, Übersetzt: Leni Sobez
- Köln: DuMont, 2003, Seiten: 288, Übersetzt: Manfred Allié
Zwar gealtert, aber auch zeitlos und mit sichtlichem Bemühen um Anspruch
Das alte Anwesen derer von Stamm liegt zwar mitten in Manhattan, aber wegen seiner von Wäldern, Felsklippen und Steilufern gesäumten Grenzen wie auf einer einsamen Insel. Rudolph, der Hausherr, ist ein manischer Sammler seltsamen Wassergetiers, das er auf ausgedehnten Reisen durch die ganze Welt fängt und in riesigen Aquarien hält. Der exzentrische Mann liebt ansonsten nur seine jüngere Schwester Bernice, die sich gerade mit dem Nichtsnutz Sanford Montague verlobt hat.
Um die reiche Erbin haben sich noch andere männliche Dauergäste des Hauses bemüht. Böses Blut kocht also an einem heißen Sommerabend, als Montague während einer Party ein Bad im Drachenteich hinter dem Haus vorschlägt. Er selbst macht den Anfang, springt - und verschwindet in den Fluten.
Dass ausgerechnet Sergeant Ernest Heath von der Mordkommission an den Ort eines Unfalls gerufen wird, kommt diesem spanisch vor. Hilfe suchend wendet er sich an den Bezirksstaatsanwalt F.-X. Markham wendet. Wie der Zufall spielt, sitzt der gerade mit seinem Freund, dem Privatgelehrten und Amateurdetektiv Philo Vance, zusammen. Dieser schließt sich mit seinem Berater und Chronisten S. S. Van Dine den Beamten an.
Die Dekadenz des Hauses Stamm und seiner Bewohner findet sogleich Vances Interesse. Es steigert sich beträchtlich, als der Teich ausgepumpt wird. Im Schlamm des Grundes entdeckt man keine Leiche, sondern die Spuren eines riesigen Drachens ... Selbst die New Yorker Polizei, sonst der harten Realität streng verhaftet, beginnt von seltsamen Ungeheuern und Spuk zu raunen. Philo Vance lehnt solche Deutungen kategorisch ab. Er geht streng logisch an den Fall heran und kommt einem Verbrechen auf die Spur, dessen Lösung freilich nicht weniger bizarr ist als der mögliche Auftritt eines Ungeheuers ...
Mitten in der Millionenstadt New York ist in einem abgeschiedenen Winkel die Zeit praktisch stehen geblieben. Eigenartige Menschen halten sich auf dem Stamm-Anwesen auf, zu dem sogar eine uralte Indianersiedlung gehört. Die Mitglieder der Familie residieren hier, seit das Land unter den Holländern besiedelt wurde. Viel Blut ist geflossen, um den Reichtum der Stamms zu begründen, wird gemunkelt, und so manches Skelett liegt wohl auf dem weitläufigen Gelände vergraben.
In solcher Umgebung (die es übrigens tatsächlich gibt: den Inwood Hill Park) findet man Philo Vance eigentlich selten, wie Herausgeber Volker Neuhaus in seinem Nachwort anmerkt; viel eher würde man John Dickson Carrs Dr. Gideon Fell hier erwarten, den düstere Landhäuser und alte Schlösser geradezu magisch anziehen. Aber es sieht aus, als ob S. S. Van Dine mit Der Mordfall Drache seinen Kommentar zum ungeliebten, aber bei den Lesern sehr beliebten Spiel mit dem scheinbar Übernatürlichen abgeben wollte.
Niemand ist geeigneter als Philo Vance, einem scheinbar spukenden Mörder den Todesstoß zu versetzen. Mit der ihm eigenen Konsequenz zieht der Detektiv sein Untersuchungsprogramm durch. Das kunstvoll errichtete Gebäude des "Mordfalls Drache" demontiert er Stück für Stück, bis im Finale eine rein rationale Erklärung übrig bleibt. (Dass es so kommen wird, kündigt er redlich übrigens schon im Eingangskapitel an.)
Bis es so weit ist, liefert Van Dine wunderbare Stimmungsbilder und Landschaftsbeschreibungen. Aber "der Fall" steht stets im Vordergrund. Humorvolle Einlagen und spielerische Exkurse oder gar romantische Einlagen wird man vergeblich suchen. Der Kriminalroman ist für Van Dine kein Spaß, sondern eine ernsthafte Aufgabe, an die er sich mit Akribie und Sachlichkeit begibt. Fußnoten gibt es reichlich, in denen sich Van Dine fast aufdringlich gelehrt über Themen wie eiszeitliche Gletschertöpfe oder die Schatzsuche auf den Kokos-Inseln auslässt, die mit der Handlung nur am Rande zu tun hat. Mittendrin gibt es sogar eine viele Seiten lange Vorlesung über Drachenmythologie auf allen Kontinenten. So bleibt schließlich keine Frage offen - und man muss es der Schreibkunst des Verfassers zugute halten, dass man sich trotzdem wunderbar unterhalten fühlt.
Seit Generationen ist die Meinung über Philo Vance geteilt. Die einen sehen in ihm den amerikanischen Sherlock Holmes (bzw. einen Lord Peter Wimsey, denn der ist das eigentliche Vorbild), die Denkmaschine, die mit eisiger Logik an einen Kriminalfall herangeht und dadurch Erfolge erntet, wo andere versagen. Dagegen ärgern sich die anderen hauptsächlich über sein unsympathisches Wesen. Vance ist nicht nur ein reicher Snob, der sich einen Dreck um die Meinung des Pöbels schert. Gleichzeitig ist er wirklich klug und brilliert mit Wissen noch auf den seltsamsten Gebieten. (Natürlich entpuppt er sich hier auch als Fachmann für Zierfische.) Schlimmer noch: Er hat kein Problem damit seinen Mitmenschen diese Überlegenheit in Gestalt angeblicher Fragen unter die Nase zu reiben. ("Vielleicht werden Sie sich auch an den Mythos von Hkun Ai und seiner Naga-Prinzessin erinnern, welche die Tochter des Drachenkönigs war ...?" - S. 183) Gern streut er in Gespräche mit biederen New Yorker Polizeibeamten Originalzitate lateinischer Klassiker ein. Auch sonst weiß und kann Philo Vance offensichtlich alles. Er selbst hegt keinerlei Zweifel daran.
S. S. Van Dine ist Vances Watson. Im Gegensatz zu diesem sitzt er aber nur schweigend dabei, wenn sein Meister Hof hält oder Tatorte untersucht. Van Dine existiert nur, um Vances Wundertaten zu beobachten und als Ich-Erzähler für die Nachwelt festzuhalten. Wir vergessen schnell, dass es ihn (angeblich) wirklich gibt.
Die Polizei ist ohne Philo Vance anscheinend aufgeschmissen. Kein Wunder, wenn Sergeant Heath ihr typischer Repräsentant ist: eifrig, aber ein bisschen dumm - ein amerikanischer Lestrade, um im Bild zu bleiben. Staatsanwalt Markham dient als Vermittler zwischen dem Fußvolk und Gottvater Vance, der ihn huldvoll "mein Alter" nennt. Eine gelungene Eigenschöpfung des Verfassers ist Dr. Emanuel Doremus, Urvater aller über Zeitnot klagenden und in Skalpell-Sarkasmen schwelgenden Polizeiärzte, die heute in keinem Buch- oder Filmkrimi fehlen dürfen.
Die Stamms und ihre Hausgäste: eine scheinbare Elite, aber tatsächlich ein degenerierter Haufen, deren Mitglieder einander in krankhafter Hassliebe zugetan sind. Viele Klischees streut Van Dine (dieses Mal ist der Autor gemeint) ein, aber trotzdem sind ihm diese skurrilen und zwielichtigen Typen wie überhaupt der gesamte Roman sehr gut gelungen.
"The Dragon Murder Case" wurde 1934 unter der Regie des Routiniers H. Bruce Humberstone verfilmt. Der heute völlig vergessene Schauspieler William Warren verkörperte Philo Vance - und ein "S. S. Van Dine" trat überhaupt nicht auf.
S.S. van Dine, Goldmann
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