Die längste Sekunde
- Heyne
- Erschienen: Januar 1960
- 3
- New York: Harper, 1957, Titel: 'The longest second', Seiten: 183, Originalsprache
- München: Heyne, 1960, Seiten: 157, Übersetzt: Werner Gronwald
- München: Heyne, 1980, Seiten: 156
- München: Heyne, 1991, Seiten: 159
- München: Heyne, 1993, Seiten: 159
- London: Mystery Book Guild, 1958, Seiten: 192, Originalsprache
Halbtoter Mann als vollwertiger Gegner
In einer dunklen Gasse wurde er gefunden, nackt bis auf die Schuhe, mit einer 1000-Dollar-Note im Strumpf, die Kehle durchschnitten, dem Tode nahe: Victor Pacific, der Mann ohne Vergangenheit und mit ungewisser Zukunft. Die Attacke ließ ihn die Stimme verlieren, der Schock das Gedächtnis. Wer hat ihn ermorden wollen? Wird man es wieder versuchen? Was ist der Grund?
Die Polizei interessiert sich verständlicherweise für Antworten auf diese Fragen. Sie glaubt Pacific die Amnesie nicht. Der steht auf der Straße, ohne Familie, Freunde und nach der teuren Operation, die seine Gesundheit halbwegs wiederherstellte, zudem pleite. Weil er nichts Besseres vorhat, besucht Pacific Bianca Hill, die ihn auf ihrer Schwelle fand und erste Hilfe leistete, ohne die er verblutet wäre. Die junge Silberschmiedin findet ihn sympathisch und stellt ihn als Gehilfen ein.
Weniger hilfsbereit ist Biancas zweiter Untermieter, das Mannequin Rosemary Martin. Sie misstraut Pacific, den sie zudem zu kennen scheint. Blitzartig über ihn hereinbrechende, verschwommene aber bedrohliche Erinnerungsfetzen bestätigen dem immer noch stummen Mann, in eine gefährliche Verschwörung geraten zu sein, die längst nicht ihr Ende gefunden hat.
Trotz seiner Handicaps bemüht sich Pacific, das Geheimnis um sein Beinahe-Ende aufzulösen. Dass Eile geboten ist weiß er, seit ihm und Bianca ein anonymer Drohbrief ins Haus geschickt wurde. Seine unsichtbaren Feinde sind offensichtlich wieder aufmerksam auf ihn geworden. Pacific würde sicherlich noch besorgter sein, wüsste er von den Sorgen der Polizei, die an diversen anderen Orten der Stadt seit kurzem seltsam zugerichtete Leichen findet: die Kehle durchtrennt, nackt, nur mit Schuhen an den Füßen, eine 1000-Dollar-Note im Strumpf ...
Allein gegen eine unbekannte Bedrohung
Ein Mann allein im Kampf gegen das übermächtige, unsichtbare, aber stets präsente Böse: eine uralte, aber zuverlässige Konstellation. Bill S. Ballinger verschärft die Ausgangssituation, indem er seinem tragischen Helden zusätzliche Fesseln anlegt. Vic Pacific wurde seiner Stimme und seines Gedächtnisses beraubt. Er weiß nicht, wer ihm ans Leben will. Das steigert auf für den Leser die Spannung, denn jeder Mensch, mit dem Pacific es zu tun bekommt, könnte ein Feind sein.
Der Autor enthüllt nur Bruchstücke, aus denen sich quälend langsam und deshalb umso spannender das Gesamtbild zusammensetzt. Es entspricht – so viel sei verraten – den Konventionen des Kriminalromans, ist also nicht unbedingt originell. Erst Ballingers ganz eigene Darstellung lässt Die längste Sekunde zu etwas Besonderem werden.
Sie weist auf die Wurzeln dieses Romans hin, der tief in der "Schwarzen Serie" des Kriminalromans und –films wurzelt, die nach dem II. Weltkrieg das Genre bereicherte. Das größte Schlachten der Menschheitsgeschichte ging für die USA zwar siegreich aus, doch die Opfer waren gewaltig, die damit einhergehenden gesellschaftlichen Umwälzungen umfassend. Vor allem brachte das Ende des Krieges ganz sicher nicht den Anbruch einer neuen, großartigen Zeit. Schon zuvor hatte der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg eines modernen, hervorragend organisierten Verbrechens Zweifel gesät.
Vertrauen ist gut, Misstrauen besser
Ein tiefes Misstrauen gegen die vormals oft penetrant propagierten Werte des "American Way of Life" war die Folge. Der aufdämmernde Kalte Krieg ließ die Fronten zwischen "Gut" und "Böse" weiter verschwimmen. Wem konnte man trauen? Offenbar niemandem. Also musste man auch nicht mehr den Hals für Präsident und Vaterland hinhalten; den Rahm schöpften ohnehin skrupellose Verbrecher mit und ohne weiße Kragen ab.
Der kleine Mann, angeblich das Salz der US-amerikanischen Erde, blieb verunsichert zurück. Er hatte im Krieg den Kopf hingehalten. Im Frieden blieb die Belohnung aus. Niemand kümmerte sich um sein Schicksal. Stattdessen wurde er drangsaliert. Vic Pacific ist das Opfer eines Verbrechens, aber die Polizei zeigt weitaus mehr Eifer bei seiner Verfolgung als bei der Lösung des Falls.
Melancholie und die Drohung eines nahen, unvermeidbaren Verhängnisses prägen die Atmosphäre. So hatten Millionen Amerikaner die unmittelbare Vergangenheit erlebt, so schlug es auf Kunst und Unterhaltung durch. Das Ergebnis ist eine zwar auch nicht wirklich realistische, aber immerhin ehrliche Handlung, die das verlogene Bild einer heilen Welt geraderückt. Insofern ist der Verzicht auf ein Happy-End nur konsequent und logisch.
Mann aus der Dunkelheit
Mit Victor Pacific hat Ballinger einen interessanten Protagonisten erschaffen. Aus der Ich-Perspektive lässt er ihn berichten. Quasi gemeinsam mit dem Leser begibt sich Pacific auf seine lange Reise aus dem Vergessen. Wir erfahren gemeinsam mit ihm, wie sich das Dunkel allmählich lichtet, hoffen und bangen um einen Mann, der von Feinden umzingelt wird, die sich nicht identifizieren lassen. Wir lernen aber auch Vic Pacific besser kennen. Er ist selbst erstaunt darüber, welche Fähigkeiten er entdeckt. Arabisch spricht er, verblüffend ist sein Geschick im Umgang mit dem Wurfmesser. Das lässt den Erfolg logisch erscheinen, mit dem er seinen Gegnern entgegentritt.
Erstaunlich ist die Gelassenheit, mit der Pacific sich in sein Schicksal fügt. Das scheint mit dem Gedächtnisverlust nicht ursächlich zusammenzuhängen. Anscheinend war er schon vorher seltsam teilnahmslos, ein Mann ohne Illusionen: entwurzelt, gefühlsarm, ohne Anhang, ohne Perspektive. Nie lässt er sich anmerken, ob er Hilfe überhaupt erwartet. In seiner Welt ist damit wohl auch nicht zu rechnen: Den Krankenhausaufenthalt muss er selbst zahlen: mit dem Geld, das er bei sich trug. Dass dessen Herkunft ungeklärt ist, scheint niemand zu stören.
Fast pleite und keineswegs geheilt wird Pacific vor die Tür gesetzt. Was aus ihm wird, interessiert nur die misstrauische Polizei. Ansonsten geht Pacific sofort in der grauen, anonymen Masse unter. Was wohl auch besser ist: Sein Bekannter Edward Merkle, der mit der neuen, kalten Nachkriegswelt nicht zurechtkommt und sich nach Freundschaft sehnt, bezahlt seine altmodische Vertrauensseligkeit mit dem Leben.
Frau an seiner Seite & in seinem Rücken
Eine Frau zeigt Herz und Mumm, sie nimmt ihn auf. Bianca Hill ist ebenfalls ein Zögling der "Schwarzen Serie". Die Rolle der Frau hatte sich in den Jahren des Krieges grundlegend gewandelt. Wie sich herausstellte, kam sie ohne männliche Anleitung zurecht bzw. behauptete sich auch in verantwortungsvollen Positionen. Zwar versuchte man(n) die Frau nach 1945 wieder in die Küche zurückzudrängen, aber 1950 war dies noch nicht gelungen. Bianca pfeift auf die Moralvorstellungen ihrer Zeit, lebt allein, führt ein eigenes Geschäft, nimmt einen Mann auf, den sie nicht kennt, kurz: Sie hat ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und für gar nicht kurze Zeit das von Vic Pacific dazu; er ist ihr dankbar dafür und schämt sich nicht, seine Schwäche einzugestehen.
Rosemary Martin demonstriert die andere Seite der Medaille. Auch sie ist selbstständig, aber sie hat sich entschlossen, auf krummen Pfaden zu wandeln. Die Freiheit der Entscheidung trägt die Gefahr des Irrtums immer in sich. Nun lebt Rosemary gefährlich, gleichzeitig ist sie gefährlich, denn sie hat nicht vor das Opfer in diesem Spiel zu werden. Gefühlskalt und egoistisch ist sie - wieso auch nicht, denn auch ihr wurde nichts geschenkt außer leeren Versprechungen. In einer grauen, trostlosen Welt spielt sich die Handlung ab. In ihrer deprimierenden Konsequenz erfreut sie den Kritiker, während der Leser sich auf eine ungemein spannende, dichte Lektüre freuen kann.
Bill S. Ballinger, Heyne
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