Das dunkle Vermächtnis
- Ullstein
- Erschienen: Januar 2003
- 32
- London: Hodder & Stoughton, 2000, Titel: 'Dark hollow', Seiten: 489, Originalsprache
- München: Ullstein, 2003, Seiten: 463, Übersetzt: Jochen Schwarzer
- Berlin: Ullstein, 2006, Seiten: 463
Murder-Rumble in the Jungle
Knapp ein Jahr ist es nun her, dass der "Fahrende Mann", ein psychopathischer Serienmörder, Frau und Kind von Charles "Bird" Parker, Detective des New York Police Department, ermordete. Auf der Jagd nach dem Unhold hinterließ Parker eine breite Blutspur. Auch der "Fahrende Mann" hauchte sein verderbtes Leben nach einem Akt der Selbstjustiz aus. Parker konnte dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden, war aber unter den Kollegen geächtet und quittierte bald den Dienst. Nun lebt er wieder in Scarborough, einem kleinen Ort im Norden des US-Staates Maine. Er hat das Haus seines Großvaters, ebenfalls eines Polizisten, restauriert, lebt zurückgezogen und hat gerade eine Lizenz als Privatdetektiv beantragt.
Parker übt schon einmal für seinen neuen Job, als er für Rita Ferris, eine entfernte Bekannte, Unterhaltsgeld eintreiben will. Ex-Gatte Billie Purdue ist ein cholerischer Kleinkrimineller mit ausgeprägtem Hang zur Gewalt, aber Parker kann das Geld aus dem normalerweise chronisch pleiten Verlierer herauspressen. Damit hat er ahnungslos das Tor zur Hölle aufgestoßen: Billie hatte Wind von der Entführung einer Gangsterboss-Tochter bekommen, nahe der Übergabestelle gelauert, alle Anwesenden über den Haufen geschossen und sich mit 2 Millionen Dollar aus dem Staub gemacht. Die Scheine, die Billie Parker übergab, stammen aus diesem Lösegeld. Damit erregt der unglückselige Fast-Detektiv das Interesse von Mafiaboss Toni Celli, der besagte Entführung arrangiert hatte. Er will die Millionen zurück, denn er hat selbst Gangstergeld unterschlagen und steckt deshalb tief in der Klemme, was ihn jede Rücksicht vergessen lässt.
Entführt, verhört, gefoltert
Auch Parker wird entführt, verhört und gefoltert. Vom Fall lässt er trotzdem nicht ab: Inzwischen wurden Rita Ferris und ihr kleiner Sohn ermordet. Von Billie? Das passt nicht recht zu ihm, zumal sich viel tiefere Abgründe aufzutun beginnen: Vom verschwundenen Lösegeld angelockt wurden die beiden bösartigen Auftragskiller Abel & Stritch, die sich nach Jahrzehnten des Mordens und Folterns gern zur Ruhe setzen möchten. Auch sie würden Billie Purdue schrecklich gern in die Finger bekommen. Wer wird den längst Untergetauchten zuerst finden?
Doch Billie flieht nicht nur, er sucht gleichzeitig seine Eltern, die ihn als Kleinkind zur Adoption freigegeben hatten. Parker folgt seinen Spuren und findet jene, die er befragen möchte, immer nur tot. Läuft Billie Amok und rächt sich für sein verpfuschtes Leben?
Aber da gibt es noch einen weiteren schrecklichen Gegner: Eine alte Frau kündigt vor ihrem spektakulären Selbstmord die Rückkehr des Caleb Kyle an. Dieser hatte im Jahre 1965 binnen kurzer Zeit sechs junge Frauen entführt, geschlachtet und in wie vorzeitliche Menschenopfer in einen Baum gehängt, bevor er einem eifrigen Polizisten einen Hinweis gab: Charlie Parkers Großvater ... Der ungeklärte Fall ließ diesen niemals los. Caleb Kyle wurde zum Mythos. Sein Enkel bekommt nun die Gelegenheit, das Geheimnis endlich zu klären - sollten die Mafia, Abel und Stritch oder Billie Purdue ihn nicht früher finden ...
Niedergewalzt von der Wucht des Bösen
Nach "Das dunkle Herz" ist dies der zweite Band der Charlie Parker-Serie. Wer den Vorgänger nicht kennt, wird förmlich niedergewalzt von der Wucht, mit der John Connolly das Böse auf diese Welt niederfahren lässt. "Das dunkle Vermächtnis" ist ein dichter Thriller mit einer teilweise überfrachteten Handlung. Schon im ersten Band beschränkte sich Connolly nicht auf einen Killer. Quasi von allen Seiten drangen die Bösewichter auf den geplagten "Bird" Parker ein. Das führte zu einigen unnötigen Ausbuchtungen in der ansonsten stromlinienförmigen Handlung; eine Beobachtung, die sich auch dieses Mal machen lässt: Zumindest Abel und Stritch sind - obwohl sehr unterhaltsam - eigentlich überflüssig in dieser Geschichte. (Einige allzu leichenreichen Massen-Metzeleien weniger hätten es übrigens auch getan.)
Nicht weiter nachdenken sollte man auch über die Wahrscheinlichkeit, die ausgerechnet Opa Parker über den Superkiller Kyle stolpern ließ, den er Enkel Charlie vererbte. Gelingt dies, zieht "Das dunkle Vermächtnis" sein Publikum ebenso wie "Das dunkle Herz" von Seite 1 in seinen Bann. Connolly versteht es meisterhaft, aus zunächst scheinbar zusammenhanglosen, brillanten Einzelszenen nach und nach ein ungeheuerliches, aber mitreissendes Gesamtbild zu fügen, bei dem man nach "Realismus" nicht mehr groß fragt.
John Connolly wandelt im Lande von Stephen King
Da unsere Geschichte in Maine spielt, stören einige übernatürliche Elemente ohnehin weniger als in einem "normalen" Thriller. Schließlich wandelt John Connolly hier im Lande von Stephen King. Da dürfen den armen Charlie Parker des Nachts schon einmal die Geister seiner ermordeten Familie und weiterer Mordopfer heimsuchen, während Caleb Kyle erfolgreich die Rolle der Hexe von Blair übernimmt.
Das alles hat nicht mehr die zermahlende Wucht von "Das dunkle Herz", womit auch nicht zu rechnen war, denn eine weiterer Abstieg in die Tiefen der (seelischen) Finsternis wäre kaum mehr möglich gewesen. Nüchtern betrachtet ist "Das dunkle Vermächtnis" ein Remake des Vorgängers. Autor Connolly mischt die Karten jedoch gut und spielt sie mit der Könnerschaft eines versierten Falschspielers aus, dem seine Opfer - wir - mit lemminghafter Aufmerksamkeit folgen.
Die Eindringlichkeit der Handlung setzt sich in der Figurenzeichnung fort. Das sollte man freilich mit einer Einschränkung sehen: Connolly erzählt hier eine eindrucksvolle Geschichte, aber wir haben es nichtsdestotrotz "nur" mit einem Thriller zu tun. Eigentlich sollte es für einen Schriftsteller die normalste Sache der Welt sein, glaubhafte Protagonisten zu schöpfen. Des Lesers Überraschung darüber, dass dies manchmal tatsächlich gelingt, verrät viel über die Probleme eines Genres, dessen Vertreter gar zu oft per Autopilot das Finale ansteuern.
Charlie "Bird" Parker - ein echter Charakter
John Connolly hat mit Charlie Parker einen echten Charakter ins Leben gerufen. Ihm bleibt wahrlich nichts erspart. Das grausame Ende seiner Familie hat er zwar überlebt, aber er ist und bleibt gezeichnet. Deshalb belastet ihn Opas "Dunkles Vermächtnis" besonders stark; der Schock des Verlustes hat Parker in gewisser Weise in den Wahnsinn getrieben. Er hat Visionen, ihm erscheinen seine ermordete Frau und Tochter, gefolgt von weiteren Mordopfern, deren Ende ungesühnt blieb. Sie treiben ihn in seinem kriminalistischem Tun an, aber natürlich lässt diese Quelle nichts Gutes für Parkers geistige Gesundheit ahnen. Tröstlicherweise wandelt er sich langsam vom blindwütigen Rächer in eigener Sache zum Racheengel der Verdammten. Auf diese Weise kehrte er langsam ins "normale" Leben zurück. Da es auf dieser Welt noch viel ungesühntes Unrecht gibt, wird er seinem geistigen Vater sicherlich noch einigen Stoff für weitere Abenteuer liefern.
So wie Robert B. Parker seinem "Spenser" für allzu grobe Gewaltakte den Söldner Hawk an die Seite stellt, kann Charlie Parker sich im Notfall auf seine unorthodoxen Kumpels Angel und Louis, Einbrecher bzw. Mietkiller im Halbruhestand, verlassen. Connolly legt sie als schwules Paar an, aber nicht aufdringlich politisch korrekt, sondern ganz "normal", d. h. wie ein altes Ehepaar mit allerdings sehr ungewöhnlichem Gewerbe. Trotz aller Bemühungen bleiben die beiden recht flach: das schmuddlige Großmaul und der intellektuelle Mörder mit moralischen Grundsätzen (die er auf den Seiten 278-280 allzu aufdringlich beschwört - ein arger Stilbruch), sehr sympathisch, aber auch etwas bemüht, da sowohl Angel als auch Louis nicht wirklich "böse" sein dürfen, um den der (amerikanischen) Schwarz/Weiß- Sicht verhafteten Leser nicht zu verwirren.
Ohne entsprechende Rücksicht darf Connolly Angels und Louis' düstere Gegenstücke Abel und Stritch zeichnen. Sie wirken in ihrer comichaften Bösartigkeit schon recht überzeichnet; in der Realität dürften ihnen als Killer wohl kaum eine derartige Karriere gelungen sein. Als Schurken wirken sie aber sehr überzeugend, weil Connolly ihre Übeltaten ohne Scheu vor blutigen Details und sehr wortgewandt, aber trotzdem primär im indirekten Bericht in Szene zu setzen weiß und auch darf, denn sie werden ihrer gerechten Strafe nicht entgehen!
Caleb Kyle, der Schatten der Wälder, kann seinen Status als unverwundbarer, womöglich übermenschlicher Killer lange aufrecht erhalten. Connolly lässt ihn nur an den schattigen Rändern der Handlung auftreten oder geschockte Zeugen ängstlich über ihn erzählen. Als Kyle dann die Bühne betritt, vermag er die Versprechen des Verfassers nicht wirklich einzulösen. Letztlich ist er der schlaue Irre vom Dienst, der sich vor dem turbulenten Finale die Zeit nimmt, ausführlich über seine Motive zu referieren. Das Rätsel verdunstet, es sprechen die in ihrer Wirkung liebevoll beschriebenen Waffen.
John Connolly, Ullstein
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