Falscher Ort, falsche Zeit
- Suhrkamp
- Erschienen: Januar 2011
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- New York: Riverhead Books, 2008, Titel: 'Known to evil', Seiten: 325, Originalsprache
- Berlin: Suhrkamp, 2011, Seiten: 380, Übersetzt: Christian Lutze
Privatdetektiv mit Leichen im Keller
Leonid McGill sitzt mit seiner Familie beim Abendessen – und das ist eine sehr ungewöhnliche Familie: Drei Kinder sitzen da, Dimitri, Twilliam und Shelly:
Zwei meiner Kinder waren außerehelich gezeugt worden; nur mein Ältester, der mürrische und schweigsame Dimitri, der immer so weit wie möglich entfernt von mir saß, war von meinem Blut.
Und dann ist da Katrina, seit dreiundzwanzig Jahren seine Ehefrau, die ihn gerade für acht Monate verlassen hatte, wegen eines Immobilienmaklers; als der wegen Betrugs angeklagt wurde, kam Katrina zurück. Aber nicht, um eine halbwegs normale Ehe zu führen; denn das Ehepaar ist, "wie vor langer Zeit die Kontinente, auseinandergedriftet". Dazu passt, dass Leonid mit seinen Gedanken nicht am Tisch ist, sondern bei seiner Geliebten Aura Ullman, die wiederum einen Geliebten hat – mit dem er Probleme kriegt. Ziemlich verfahren, ziemlich verkorkst, das alles.
In diese Situation hinein kommt ein Auftrag, der McGill mit seiner Vergangenheit konfrontiert: Alphonse Rinaldo, der selbst ernannte Sonderbevollmächtigte von New York, von dem keiner weiß, wie viel Macht er tatsächlich hat, bittet ihn um Hilfe. Wobei von einer Bitte natürlich keine Rede sein kann – McGill, der früher für Rinaldo gearbeitet hat, kann den Auftrag einfach nicht ablehnen. Eigentlich kann er ihn auch nicht annehmen; deshalb fordert er ein: "Wenn Sie mich wollen, geht es nach meinen Regeln."
Denn McGill zählt ja seit einer Weile zu den Guten; er will die Schatten der Vergangenheit loswerden – die durch einen immer noch bestehenden Haftbefehl personifiziert werden:
"Dieser Haftbefehl bezieht sich auf einen anderen Mann", sagte ich. "Auf den Mann, der ich früher war. Ich kann meine Vergangenheit nicht verleugnen, werde jedoch auch nichts gestehen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass Sie mich nie dabei erwischen werden, die Dinge zu tun, von denen Ihre Leute glauben, dass ich sie tue. Dieser Mann bin ich nicht mehr."
Der Mann, der Leonid Troller McGill gewesen war, fabrizierte beispielsweise falsche Beweise, die er den falschen Leuten unterschob – gegen eine Gebühr, die er von den richtigen Tätern erhielt. Nun will zu den Guten gehören, fällt aber immer wieder in eigentlich überkommene Verhaltensmuster zurück. Er nutzt seine Kontakte von damals, allen voran seinen Freund Hush. Der Auftragskiller im Ruhestand mordet zwar nicht mehr, aber nicht aus der Erkenntnis heraus, dass sein altes Leben falsch gewesen wäre: Er tut es einfach nicht mehr; McGill hat immer ein bisschen Angst vor ihm. Ein Kontakt, den er aufwärmt, ist besonders bemerkenswert: Er lässt den Südamerikaner Diego einfliegen – einen Kompagnon aus alten Tagen. Einen effizienten Folterer.
Dieser Überfluss an Kontakten, ob alt oder neu, ist ein kleines Dilemma für die Glaubwürdigkeit der Geschichte: Für jede Eventualität kennt McGill einen Experten, er kann also praktisch gar nicht in eine ausweglose Situation kommen. Es sei denn, er bekommt einen Schlag auf den Kopf und wird selbst gefoltert. Aber der alte Boxer McGill, der hart im Austeilen ist, zeigt sich als ebenso hart im Einstecken. Das ist, leider, dann etwas comichaft.
Dennoch: In Falscher Ort, falsche Zeit gelingt Mosley etwas, woran die meisten anderen Autoren kläglich scheitern würden. Er breitet gleich drei grundverschiedene Plots aus, die er getrennt voneinander vorantreibt und dabei sehr geschickt überlagert. Der eine ist der Auftrag, den er von Rinaldo annimmt; Fall zwei rührt aus der Vergangenheit, als er auch mal Unschuldige wie Ron Sharkey so schwer belastete, dass für sie ein normales Leben nie wieder möglich wurde; und der dritte Fall wird ihm durch seine Söhne übergestülpt, die Probleme mit einem Zuhälter und Mädchenhändler namens Gustav bekommen.
Als Detektivroman funktioniert dieses Buch noch besser als sein Vorgänger. Die Struktur ist trotz der drei unterschiedlichen Plots durchaus traditionell, die Erzählhaltung belegt die alte Schule, auf die Jochen König schon in seiner Besprechung des ersten McGill-Romans hingewiesen hat. Mosley kennt sich aus im Genre, er kennt ganz offensichtlich nicht nur die Säulen der Detektivliteratur und des Hardboiled-Romans (von MacDonald bis Latimer, von Hammett bis Woolrich und Spillane), er kennt sowohl Ernst als auch Robert Bloch – und er ist auch mit alten Pulpromanen vertraut und scheut sich nicht, triviale Momente einfließen zu lassen, wenn’s der Spannung dient. Da wird Falscher Ort, falsche Zeit schon mal zur – immer freiwilligen – Parodie, zum kenntnisreichen Zitatpop. Mosley packt sogar so etwas wie Literaturtheorie in sein Buch:
Da gibt’s noch eine andere Sache in Detektivromanen: Am Ende der Geschichte wird das Verbrechen gelöst und fertig. Der Böse wird gefasst oder vielleicht auch nur entlarvt. Aber trotzdem findet ein Verbrechen im nächsten Band der Serie nie eine Fortsetzung. Man trifft den treuen und selbstbeherrschten Schnüffler kaum je auf der Suche nach einem Täter aus der vorherigen Geschichte an.
So viel Glück hatte ich nicht. Die Verbrechen, mit denen ich zu tun hatte, hingen mir Jahre, manchmal Jahrzehnte nach.
Damit wird auch klar, dass es sich bei den McGill-Romanen eher um eine Serie als um eine Reihe handelt. Zwar steht jeder Titel für sich, aber McGill ist kein klassischer Schnüffler mit ein paar Sidekicks, die sich nicht entwickeln, sondern statisch funktionieren.
Und: Walter Mosley wusste schon immer, welche Funktion der Kriminalroman in der Geschichte der US-Literatur hat – zumal für einen schwarzen Autor. Oft waren solche Bücher pure, plumpe Vehikel für Gesellschaftskritik; oft war die geschilderte Brutalität ein Akt gegen die linientreue Verfilmbarkeit. Mosley bringt diese Aspekte routiniert ins 21. Jahrhundert. So gesehen sind die McGill-Krimis wegweisende Meilensteine eines Genres, das sich viel zu häufig in eine langweilende Beliebigkeit flüchtet, in der die Protagonisten schon wie aktuelle Filmstars beschrieben sind, sodass sie das Caster der Filmgesellschaften überflüssig machen.
Genau da macht Mosley nicht mit. Und hier liegt streng genommen der vierte Plot, vielleicht sogar die eigentliche Geschichte: Es ist das Leben eines Mannes, der mit Hegel, Marx und Konsorten aufwuchs, der als Zwölfjähriger von seinem Vater verlassen wurde, dessen Mutter kurz danach an gebrochenem Herzen starb, der zum Handlanger Krimineller wurde und irgendwann die Kurve kriegte. Als er von einem gewissen Plumb mit der Willkür des Staates und also mit Verhaftung bedroht wird ("Ich hab ein Dutzend Richter auf Kurzwahl, die den Haftbefehl unterschreiben würden, ohne mit der Wimper zu zucken"), weiß McGill ebenso gut wie sein Autor:
Es war alles wahr. Die Regierung, gegen die mein Vater angewettert hatte, hatte diese Macht, und sie hatte ihre Werkzeuge seit fast einem Jahrhundert geschärft und gespitzt. Ich war nichts als ein Halm gegen die Sense von Plumbs Justiz.
Das ist vielleicht auch eine Reaktion darauf, dass Bill Clinton einst Walter Mosley zu seinem Krimifavoriten erklärte, was von den PR-Abteilungen wieder und wieder hervorgekramt wird. Aber wer will schon etwas lesen, das präsidentenkompatibel ist? Und wer will so etwas schreiben? Mit Leonid McGill hat Mosley eine Figur geschaffen, die es Leuten wie Clinton nicht ganz so leicht machen dürfte, sie zu mögen. Na ja, auch der unvergessene und unvergessliche Easy Rawlins hatte seine Ecken und Kanten.
Known To Evil heißt dieses Buch übrigens im Original – bei uns gibt’s also wieder mal einen Titel, der überhaupt nicht passt. Dafür flutscht die deutsche Sprache wunderbar: Kristian Lutze hat diesen Krimi offenbar vorzüglich übersetzt. So ist Falscher Ort, falsche Zeit ein nahezu rundum zufriedenstellender Roman geworden. Daran ändert auch nichts, dass eine der drei Auflösungen etwas läppisch daherkommt.
Walter Mosley, Suhrkamp
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