Schwarz
- Aufbau
- Erschienen: Januar 2011
- 4
- Helsinki: Tammi, 2009, Titel: 'Kriittinen tiheys', Seiten: 468, Originalsprache
- Berlin: Aufbau, 2011, Seiten: 445, Übersetzt: Peter Uhlmann
Leo Kara betritt die Welt – mit hohem Tempo
Leo Kara ist in mehrfacher Hinsicht ein ungewöhnlicher Ermittler. Er ist kein Polizist, nimmt aber eine wichtige Position ein in der Or-ganisation für Drogen- und Verbrechensbekämpfung der UNO – er ist Persönlicher Assistent des Generaldirektors Gilbert Birou. Zu dieser Stelle kam er, weil dieser Birou Karas Ziehmutter Betha Gilmartin einen Gefallen schuldete, also eher durch Erpressung als durch eigene Qualifikation. In seinen beiden bisherigen Jobs hat Kara nämlich absoluten Mist gebaut, wie es heißt. Als Ermittler oh-ne Ermittlungserfahrung übernimmt er wichtige Aufgaben und fühlt sich wohl in seinem Job:
Kara gefiel seine Arbeit im UNODC: Er durfte eigenständig umherreisen, es gab kaum stumpfinnige Routineaufgaben, besondere Fähigkeiten auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen wurden so gut wie nie ver-langt, die Aufträge wechselten oft, und was am wichtigsten war, dass er nur einen Vorgesetzten hatte, den er zudem selten sah.
Der Job ist also seine letzte Chance auf eine halbwegs gute Stelle. Denn in seinem Lebenslauf befinden sich nicht nur Verhaftungen wegen Angriffen auf Polizisten und andere Indizien für Mängel auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch ein mysteriöser Unfall, an den er sich selbst nicht zu erinnern scheint. Was genau ist im Herbst 1989 passiert, als seine Eltern – der Vater Finne, die Mutter Britin – und seine Schwester offenbar ums Leben kamen? Kara selbst wurde dabei auch schwer verletzt, die Folgen des Kopfschusses spürt er jeden Tag. Er ist unberechen-bar, neigt zu Aggressionen, zu asozialem Verhalten und legt sich mit jedem an, der gegen ihn ist – ob das nun ein Oberst des sudanesischen Nachrichtendienstes ist oder ein hohes Tier der finnischen Kriminalpolizei:
Die Hautfalte mit dem unebenen Rand war das einzige physische Andenken an seine Frontallappenverletzung. [...] Nach Ansicht der Psychiater hatten die zwanzig Jahre zurückliegenden Schreckenstage allerdings umso mehr psychische Verletzungen hinterlassen. Er konnte die Veränderungen in seinem Seelenleben nicht einschätzen, aber er wusste, dass nur wenige Menschen ihn so mochten, wie er jetzt war. Und Leo Kara selbst gehörte nicht dazu.
Kara kann sein Verhalten also kaum steuern, wie ein Psychiater nach dem Unfall feststellte:
"Es scheint klar zu sein, dass die Frontallappenverletzung des Hirns, die der Patient bei den Ereignissen im Oktober 1989 erlitt, zum Frontalhirnsyndrom geführt hat, das heißt, zu einer Veränderung der Persönlichkeit, die Fron-talpsyche genannt wird. Der Patient, der früher ruhig und gesellig war, verhält sich heute aggressiv und unberechenbar. Zum Krankheitsbild gehören auch bestimmte Gedächtnisstörungen, die aus Sicht des Patienten möglicherweise positiv sind, weil das Gedächtnis den Patienten schützen kann, indem es allzu schockierende Erlebnisse aus dem Bewusstsein ausblendet."
Kara ist der Protagonist einer vierbändigen Reihe, Schwarz der erste Band – und diese Informationen sind allesamt wichtig. Autor Soininvaara veröffentlichte bisher sieben Romane um den SUPO-Ermittler Arto Ratamo. Die SUPO, die finnische Sicherheitspolizei, spielt auch bei Schwarz eine Rolle – aber dies hier ist wirklich kein finnischer Krimi: Diese Reihe ist so international angelegt, wie man es sich nur vorstellen kann.
Der Prolog spielt in Äthiopien, der erste Teil hauptsächlich im Sudan vor der Teilung, dann geht es um die Welt: New York, Nairobi, Wien – und natürlich Helsinki und Umgebung. Finni-sche Waffenfirmen sind offenbar in eine schmutzige Geschichte verwickelt, das Steuerungssystem Globeguide wurde gestohlen, irgendjemand verfügt durch skrupellose Waffenhändler über neu entwickelte Marschflugkörper mit ungeahnten Reichweiten; im Libanon taucht zudem eine Abschussrampe für Raketen auf. Nicht nur UNODC ermittelt hier, auch SIS, SUPO und private Sicherheits-dienste sind involviert, der UNO-Generalsekretär, die deutsche Bundeskanzlerin und die amerikanische Außenministerin tauchen auf, teils sogar mit Sprechrollen. Es geht, damit wird nicht zu viel verraten, um eine globale Bedrohung allererster Kategorie.
Das war’s aber noch lange nicht. Das Personal in diesem außergewöhnlichen Krimi reicht hin bis zu arabischen Sklavenhändlern, russischen Investitionsfirmen und islamistischen Terroristen, die komplexe Geschichte ist hochpolitisch und brisant.
Und mittendrin macht sich der polyglotte Kara ständig neue Freunde. Immer wieder gerät er in Gefahr, wobei ihm gern seine Fron-talpsyche im Weg steht. Wenn er weiß, dass er unbeherrscht werden könnte, nimmt Kara Medikamente; aber immer weiß er das nicht vorher. Immerhin kann er logisch denken und seine Schlussfolgerungen ziehen. Ob das aber immer die passenden Puzzleteilchen sind? Und vertraut er tatsächlich den richtigen Leuten?
Wie Kara sich nach und nach ein Gesamtbild zu vermitteln sucht, das ist hochgradig spannend und nahezu perfekt gemacht, fast ohne die typischen Klischees, die international angelegte Krimis oft ungenießbar machen: Die Übergange sind fließend und überzeugen ohne allzu triviale Muster und Motivationen, wie sie z.B. Grisham nötig hat, die Story kommt ohne jede Moral aus. Dabei geht es durchaus um Verschwörungen; bereits die Motti weisen darauf hin. Aber die eigentliche Verschwörungsgeschichte, die das Herz der Reihe auszumachen scheint, hat am Ende von Schwarz gerade erst begonnen.
Kara spricht mit sehr vielen Leuten, die durch ihre klare Zeichnung meistens sofort wiedererkennbar sind. Von wem am Ende aber welche Information kommt, geht zwischendurch ein bisschen verloren. Aber das macht nichts: Es geht um das Gesamte, das Große und Ganze – und Soininvaara repetiert nicht zuletzt durch geschickten Szenenwechsel immer wieder exakt dosiert die Erkennt-nisse. Natürlich: Man sollte schon dranbleiben, sonst blickt man bei den vielen Personen und der unglaublich hohen Faktendichte nicht durch. Der Apparat auf den ersten Seiten ist dabei eine gute Hilfe.
"Mundus Novus" lautet der Übertitel der Serie um Leo Kara – Neue Welt. Um was es dabei geht, wird erst auf den letzten rund hundert Seiten des Romans etwas angerissen. Darüber werden wir sicher im zweiten Band mehr erfahren: Zwar kommt der zentrale Plot des Krimis hier zu einem Ende, viele Fäden bleiben am Ende aber offen. Was bedeutet: Wer Schwarz liest, muss wissen, worauf er oder sie sich einlässt: Auf insgesamt an die zweitausend Seiten hochspannender Lektüre. Das klingt wie eine Drohung, ist aber eher ein Versprechen. Noch kann man die Reihe leider nicht am Stück lesen; gerade ist Weiß auf Deutsch erschienen, der zweite Band.
Und so bekommt dieser wunderbar vertrackte Roman ebenso viele Punkte wie das Luxus-Restaurant "Le Ciel" in Wien, in dem Karas Chef Birou einmal diniert, im "Falstaff-Magazin": "Einundneunzig von hundert möglichen Punkten". Es verwundert nicht: Sowohl Restaurant als auch Magazin gibt es. Inzwischen sind es sogar zweiundneunzig Punkte.
Zum Schluss noch ein Wort zur Übersetzung: Peter Uhlmann findet ein sehr flüssiges Deutsch; allein die ständige Duzerei stört mich etwas.
Taavi Soininvaara, Aufbau
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