Das Geheimnis des Lippenstifts
- Rot-Blau
- Erschienen: Januar 1932
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Originalausgabe erschienen unter dem Titel „The French Powder Mystery”
- New York : Frederick A. Stokes 1930
- London : Victor Gollancz 1930
- Berlin : Rot-Blau-Verlag/Ullstein Verlag 1932. Übersetzung: Paul Baudisch. 272 S.
- Frankfurt/Main - Berlin : Ullstein Verlag 1969 (Ullstein-Krimi 1235). Übersetzung: Paul Baudisch. 159 S.
- Bern - München - Wien : Scherz Verlag 1.1.1976 (Scherz-classic-Krimi 576). Übersetzung: Paul Baudisch. 174 S.
- Köln : Lübbe/Mysterious Press/Bastei Entertainment 2014 [eBook/US-englisch]. 1,69 MB.
Ein Mord wird öffentlich ausgestellt
Seit Generationen versorgt das Kaufhaus French seine Kunden in New York City mit allem, was diese zum Alltagsleben benötigen bzw. sich aufschwatzen lassen. Cyrus French, aktueller Chef des Hauses, lockt gern mit aufwändigen Ausstellungen, um kaufwilliges Publikum mit neuen Entwicklungen und (europäischen) Moden vertraut zu machen. Die aktuelle Vorführung eines revolutionären Schrankbetts wird allerdings zum Fiasko: Als sich besagtes Möbel ausklappt, fällt den entsetzten Zuschauern die Leiche der zweifach durchs Herz geschossenen Winifred French vor die Füße.
Warum wurde sie ermordet und anschließend quasi ausgestellt? Wo ist Tochter Bernice, die sie mit in die zweite Ehe mit Cyrus French brachte? Bernice gilt als Problemkind mit einem Hang zu zwielichtigen Männern; außerdem findet sich in ihrem Lippenstift ein Geheimversteck für Heroin, was der tugendboldige Stiefvater keineswegs erfahren sollte.
Der Fall geht an Inspektor Richard Queen, der wie üblich auf die tatkräftige Hilfe seines Sohnes zählen kann: Ellery Queen hat sich nicht nur als Kriminalschriftsteller, sondern auch als Privatdetektiv einen Namen gemacht. Ermittlungs-Eile tut Not, denn die Familie French gehört zur Prominenz der Stadt und verfügt über entsprechende Verbindungen.
Wer hatte in der Mordnacht Zugang zum Kaufhaus? Leider ist die Schar der Verdächtigen ebenso kopfstark wie ihre Alibis schwächeln. Marion, Cyrus‘ Tochter aus erster Ehe, reiht sich ebenso ein wie ihr heimlicher Bräutigam, der gesamte Aufsichtsrat oder Bernices leiblicher Vater, weshalb es dauert, bis Ellery Queen herausfindet, was tatsächlich hinter diesem Mordfall steckt …
Spannung in bzw. trotz Zeitlupe
1930 standen die Vettern Frederic Dannay (alias Daniel Nathan, 1905-1982) und Manfred Bennington Lee (alias Manford Lepofsky, 1905-1971) noch am Beginn ihrer Schriftstellerkarriere. Zwei Jahre zuvor hatten sie im Rahmen eines Wettbewerbs ihr Romandebüt vorgelegt und erfreuliche Resonanz erfahren. Bereits The Roman Hat Mystery (dt. Der mysteriöse Zylinder) hatte derselbe Detektiv „Ellery Queen“ gelöst, dessen Name das Duo als gemeinsames Pseudonym wählte. Ellery Queen, der Detektiv, wurde einer der klassischen Ermittler des Krimi-Genres. Er blieb über Jahrzehnte erfolgreich - dies auch deshalb, weil Dannay & Lee ihn den Zeitläufen anpassten und den eher steifen „armchair detective“ in die psychologischen Untiefen des Verbrechens führten.
Der Ellery Queen in Das Geheimnis des Lippenstifts - das Wortspiel des Originaltitels trotzte einer adäquaten Übersetzung - steckt freilich noch in den Kinderschuhen. Die deutsche Fassung ist trotz vieler Änderungen in dieser Hinsicht weniger verfälschend als hilfreich, denn sie eliminiert diverse Manierismen, die um 1930 nach Ansicht von Dannay & Lee einen Privatermittler auszeichnen mussten. Dazu gehört u. a. Ellerys affektives Getue, das durch einen Gehstock und ein Monokel unterstrichen wird, oder sein Drang, angeberisch lateinische Zitate in seine Rede einzuflechten. Ebenfalls unter den Tisch fällt die Einleitung eines mysteriösen „J. J. McC.“, der sich als angeblicher Biograf des Detektivs präsentiert und umständlich dessen wahre Identität zu verschleiern vorgibt. (Leider fehlt auch der für einen klassischen Rätselkrimi übliche Lageplan des Tatorts. Immerhin lässt sich der Roman - im englischen O-Ton und mit sämtlichen vorgesehenen ‚Features‘ - als eBook erwerben.)
Das Geheimnis des Lippenstifts ist ein „Whodunit“ reinsten Wassers. Aus heutiger Sicht übertreiben es Dannay & Lee maßlos, wenn sie längst bekannte Informationen zum Teil mehrfach wiederholen. Solche Redundanzen gehörten zum „fair play“, dem sich die Autoren verpflichtet fühlten: Die Leser ermitteln quasi an der Seite des Detektivs; sämtliche Indizien werden ihnen zeitgleich präsentiert. Natürlich ist dies eine hohle Vorgabe, denn tatsächlich wird niemand den Täter vor Ellery Queen erkennen.
Bloß keine losen Enden lassen!
Dies liegt auch an einer ungewöhnlichen Variante des genretypischen „Großen Finales“: Zwar lässt auch Ellery sämtliche Verdächtige in einem Raum versammeln, um vor ihnen (bzw. eigentlich uns Lesern) den Fall noch einmal aufzurollen, was in der dramatischen Entlarvung des Übeltäters gipfelt. (Zuvor konnte sich die simple Durchsuchung einer Wohnung über mehrere Kapitel hinziehen, was die Geduld der Leser auf die Probe stellt.) Die noch unerfahrenen Dannay & Lee meinen es zu gut und übertreiben, indem sie uns mit einem endlosen Monolog des Ermittlers konfrontieren, der zu allem Überfluss einen Verdächtigen nach dem anderen freispricht und dann einhält, um einen der wenigen Kandidaten, die noch als Mörder in Frage kommen, die Nerven verlieren zu lassen. Zu erkennen gibt sich eine uninteressante Nebenfigur, die nicht annähernd so intensiv vorgestellt wurde die der Kreis derer, die das Autorenduo auffällig/verdächtig in den Vordergrund schob.
Die Faszination liegt in der Präzision, mit der Dannay & Lee die verstreuten Indizien bündeln und ihnen eine Richtung geben, die den bizarren Ereignissen tatsächlich einen Sinn geben. Man muss jedoch einen Sinn für diese Art der Spannungsmache besitzen. Es geschieht wenig; meist wird geredet, untersucht, verhört. Die Charaktere legen keine echten Persönlichkeiten an den Tag; es ist unnötig, denn sie sind Figuren eines Spiels, das sich als Mordermittlung tarnt. Angesichts einer Krimi-Gegenwart, in der den (selten bemerkenswerten) Befindlichkeiten des Ermittlers mindestens ebenso viel Platz eingeräumt wird wie dem Fall, ist dies trotz der steifen, altmodischen Machart durchaus erfreulich.
Überhaupt ‚lebt‘ dieser Kriminalroman unter seiner nostalgischen Staubschicht: Ellery Queens New York von 1930 wirkt geradezu rührend anachronistisch. Cyrus French ist ein Geschäftsmann, wie er nur im Märchenbuch existiert, sein Warenhaus ein von der Zeit überholtes Erfolgsmodell, und die dort herrschende ‚Hektik‘ würde selbst eine Schnecke erheitern. Ähnliches gilt für die angeblich vor Eifer rotierende Polizei, die primär aus Holzköpfen und Trampeltieren besteht - dies auch deshalb, um Ellery Queen heller glänzen zu lassen.
Fragwürdige Entscheidungen, lästige ‚Helden‘
Obwohl Ellery Queen längst nicht mehr der blasierte Snob aus Der mysteriöse Zylinder ist, trifft er mehrfach Entscheidungen, die nicht unbedingt von der Logik diktiert werden: So schließt er Cyrus French‘ Sekretär Westley Weaver von vornherein als Verdächtigen aus, weil er ihn von früher als „Ehrenmann“ kennt. Stattdessen instrumentalisiert er Weaver als „Watson“, der - wieder in Stellvertretung des Lesers - offenen Mundes staunen darf, wenn Ellery sein Ermittler-Genie spielen lässt. Ansonsten ist dieser Weaver denkbar unsympathisch und sogar dämlich als blind verliebter Trottel, der Marion French - sein Braut in spe - vor „Aufregung“ und „Skandal“ schützen will und sie dadurch erst recht verdächtig wirken lässt.
Überhaupt ist die Runde der Verdächtigen einfach zu groß; man wundert sich, wie Ellery so viele Personen in einen Raum stopfen kann, wenn er zum Showdown lädt. Der Überblick leidet, und auf dem Weg ins Finale häufen sich Verhöre, die zu nichts führen, weil sich die Verdachtsmomente in Luft auflösen. Ebenso sinnlos sind manche Handlungsstränge, wie die Auseinandersetzung mit einem neuen Polizeichef, der dann nie als Störfaktor (und selten überhaupt) auftritt.
Das dieser Roman eine Neuausgabe nicht nur verdient, sondern auch benötigt, liegt zum einen an seinem dennoch hohen Unterhaltungswert, zum anderen an einigen hässlichen Chauvinismen, die 1930 traurig alltagsnormal waren, aber heute kaum noch erträglich sind; die Originalfassung gab es vor. Gemeint ist nicht das heute geächtete „N“-Wort, das die beiden schwarzen Nebenfiguren der Geschichte ständig begleitet, sondern die Tatsache, dass beide sich nur im ‚Tarzan-Sprech“ vorgeblicher Unbildung oder sogar Dummheit artikulieren. Auch Ellery Queen bzw. Dannay & Lee waren Kinder ihrer Zeit - als geniale Krimi-Autoren darf man sie ehren, dabei aber die Schattenseiten nicht ignorieren.
Fazit
Obwohl konzeptionell noch im Reifeprozess, legen Dannay & Lee (= „Ellery Queen“) einen gelungenen Rätselkrimi klassischer Prägung vor. Die Zahl der Verdächtigen ist zu groß, viele Spuren enden im Nichts, und das „große Finale“ will nur bedingt zünden. Dennoch schlägt das Talent des Autorenduos durch; erstaunlich ist u. a. das Geschick, scheinbar absolut unzusammenhängende Indizien logisch zu verknüpfen.
Ellery Queen, Rot-Blau
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