Der vertauschte Casanova
- Scherz
- Erschienen: Januar 1956
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Originalausgabe erschienen unter dem Titel „The Case of the Perjured Parrot”
- New York: William Morrow & Co. 1939
- Bern : Scherz Verlag 1956 (Die schwarzen Kriminalromane 81). Übersetzung: Gottfried Beutel. 190 S. [keine ISBN]
- Hamburg : Xenos Verlag 1976 [unter dem Titel „Perry Mason und der vertauschte Casanova“]. Übersetzung: Gottfried Beutel. 159 S. [keine ISBN]
- Bern - München - Wien : Scherz Verlag 1986 (Scherz-Krimi 1057). Übersetzung: Gottfried Beutel. 159 S. ISBN-13: 978-3-502-51057-4
Mordfall mit fehlinformiertem Papagei
Fremont C. Sabin ist ein Selfmade-Millionär, der sich seinen Sinn für die wahren Werte des Lebens bewahren konnte. Ein Fehler war dagegen die Heirat, zu der sich der einsame Witwer vor zwei Jahren von der ebenso gerissenen wie gierigen Helen Watkins überreden ließ. Sie brachte ihren ähnlich selbstsüchtigen Sohn Steve mit in diese Ehe, die längst zur Farce geworden ist und nur deshalb nicht beendet wurde, weil Mutter und Sohn den unglücklichen Fremont weiterhin schröpfen wollen.
Dieser flüchtet gern in die Einsamkeit seiner in den Hügeln Kaliforniens gelegenen Hütte. Dort findet man ihn - mit zwei Kugeln im Herzen und schon seit Tagen tot. Am Tatort zurück blieb Fremonts geliebter Papagei Casanova, den der offenbar tierliebe Mörder versorgt mit Futter und Wasser zurückließ.
Da seine Schwiegermutter erwartungsgemäß Anspruch auf das gesamte Vermögen erhebt, bittet Fremonts leiblicher Sohn Charles den Anwalt Perry Mason zum Hilfe. Er soll den Mord aufklären und sich um die in diesem Zusammenhang aufgetauchten juristischen Fragen kümmern. Die sind knifflig, denn die Gültigkeit eines von Fremont hinterlassenen Testaments hängt vom exakten Zeitpunkt seines Todes ab.
Noch komplizierter wird der Fall, als Mason die Bibliothekarin Helen Monteith entdeckt: Sie behauptet Fremont kurz vor seinem Ende geheiratet zu haben. War Sabin ein Bigamist? Hat sie es herausgefunden und sich gerächt? Bei ihr daheim findet Mason den Papagei Casanova, der offenbar Fremonts letzte Worte aufgeschnappt hat, die er nun ständig wiederholt: „Helen“ habe ihn umgebracht - bloß welche? Gattin Nr. 1 hat ein Alibi, Nr. 2 nicht, aber Mason will an Monteiths Schuld nicht glauben. Er interpretiert die Indizien neu und findet heraus, was tatsächlich geschehen ist …
Pudelwohl zwischen den Fallstricken der Justiz
Die Frühzeit einer Serie ist eine für Leser angenehme Phase. Während die Anlaufschwierigkeiten überwunden sind und die Zentralfiguren entwickelt sind, haben die Plots ihren Abwechslungsreichtum behalten. Routinen konnten sich noch nicht in das Getriebe einfressen, und fern ist jene Erstarrung, die jede Serie irgendwann erwischt, wenn sie lang genug läuft: Dies ist ein literarisches Naturgesetz, und es liegt darin begründet, dass die Gestaltungskraft jedes Autors sich erschöpft. Dann übernimmt die Schreibhand und produziert primär Wörter, die sich zu verständlichen Sätzen, aber nicht mehr zu einer spannenden, mitreißenden Geschichte formen.
Erle Stanley Gardner war in dieser Hinsicht doppelt betroffen. Ab 1933 schrieb er Romane und Storys um den Anwalt Perry Mason, sechs Jahre später begann er unter dem Pseudonym „A. A. Fair“ die Serie um das ungleiche Privatdetektiv-Paar Bertha Cool und Donald Lam. Beide liefen bis zu seinem Tod. Obwohl sie an Qualität stark verloren, blieben genug Leser, die sich an der Formelhaftigkeit der späteren Geschichten nicht störten.
Wer wissen möchte, wieso Perry Mason einst so berühmt und beliebt war, lese die frühen Werke. Der vertauschte Casanova erschien erstmals 1939 und ist schon Band 14 der Serie, was für Gardner spricht, der trotz seiner hohen Tempos nicht nur solide, sondern weiterhin lesenswerte Krimis schrieb. Hier brach er u. a. mit seiner üblichen Einführung, die identisch mit einer Schilderung der Vorgeschichte jener Übeltat ist, die schließlich Perry Mason auf den Plan ruft. Der Mord ist bereits geschehen und Mason schon im ersten Kapitel im Spiel. Immerhin ist das Finale typisch; es findet als „courtroom drama“ im Gerichtssaal statt.
Indizien (können) lügen
Der vertauschte Casanova ist ein „Whodunit“, wobei Gardner es mit dem genreüblichen „fair play“ nicht so genau nimmt. Zwar präsentiert er Spuren und Beweisstücke, sorgt aber dafür, dass ausschließlich Perry Mason sie im Rahmen eines Großen Finales in einen plausiblen Zusammenhang bringen kann. Tricks sind gestattet; schon die Titel vieler Mason-Romane deuten fallspezifische Seltsamkeiten an, die von der Polizei ignoriert und nur von Mason in ihrer Wichtigkeit erkannt werden (u. a. The Case of the Caretaker's Cat, 1935; The Case of the Moth-Eaten Mink, 1952; The Case of the Singing Skirt 1959). Dieses Mal ist es ein Papagei, der allerdings nicht als stereotypes Klischee dient. Zwar spricht das Tier, doch das ist nur bedingt von Bedeutung; stattdessen tauchen zwei Papageien auf (zu denen sich sogar ein dritter gesellt), womit der Verfasser seine Leser zuverlässig bindet: Dieses Rätsel möchte man gelöst wissen!
Gardner schüttet darüber hinaus ein wahres Füllhorn aus Verdachtsmomenten, fragwürdigem Verhalten und seltsamen ‚Zufällen‘ aus. Immer wieder gibt er dem Geschehen eine neue Richtung, klärt einige Fragen, wirft neue auf, interpretiert das Entdeckte auf unerwartete Weise, legt dabei ein erstaunliches Tempo vor - und nimmt sich die Zeit, mehrfach auf eine Grundwahrheit hinzuweisen, die Gardner - selbst Anwalt - verinnerlicht hatte: Indizien sind gefährlich, weil sie Voreingenommenheit erzeugen.
Wie Mason final in einem seiner brillanten Plädoyers vor Gericht nachhaltig beweist, lassen sie sich drehen und wenden - auch gegen einen unschuldigen Verdächtigen. Gardner hatte selbst viele Prozesse überprüft und entdeckt, dass Fehlurteile gefällt wurden, weil Indizien nicht nur falsch interpretiert, sondern in den Dienst der Anklage gestellt wurden. Nicht grundlos gründete er 1948 den „Court of Last Resort“, eine Gesellschaft, die solchen Personen beistehen sollte. In Der vertauschte Casanova verkörpern Sergeant Holcomb bzw. District Attorney Sprague die gefährliche, weil mit Scheuklappen arbeitende Polizei bzw. Justiz. Gardner ging auf Distanz zur (nicht nur) zeitgenössischen „moral majority“, die schon den nur eines Verbrechens Verdächtigen mindestens eingesperrt sehen wollte, während die Frage nach der eindeutig nachgewiesenen Schuld nachrangig blieb.
Eigentlich ein simpler Fall
Kritiker warfen Gardner schon zu Lebzeiten Plotschwäche vor. Sie monierten, dass der Autor viel Rätsel-Staub aufwirbelte, unter dem nach finalem Setzen ein vergleichsweise profanes Verbrechen zum Vorschein kam. Mit Der vertauschte Casanova straft Gardner sie einerseits Lügen - dieser Roman liest sich über die gesamte Distanz spannend! -, während andererseits sein Hauptanliegen eben nicht der Tat ist, sondern der scheinbar felsenfeste Verdacht gegen eine in die Enge getriebene Verdächtige, der aber nicht das reale Geschehen widerspiegelt.
Die Aufklärung des tatsächlichen Tatablaufs für Mason nur Mittel zum Zweck. Der Anwalt erläutert seine Methode selbst. Am Ende sind sämtliche Fragen zufriedenstellend beantwortet, das Indizienpuzzle ist vollständig. Dass es aus gar nicht so vielen Teilen besteht, ist nebensächlich: Jedes Teil sitzt nun an korrekter Stelle, und der Gerechtigkeit ist wirklich Genüge geschehen.
Ebenfalls Kritikerschelte zog Gardner aufgrund angeblicher Figurenschwäche auf sich. Auch hier ist es möglich zu relativieren. Faktisch stellt Gardner Figuren auf ein Spielfeld. Ihn interessieren die Züge, die er mit ihnen machen kann. Heute ist man ihm dankbar; wie viele klassische Krimis quälen vor allem mit ranzig gewordenen Love Storys? Gardner beschreibt, was wir aus seine Sicht wissen sollen - eine erfreuliche Selbstdisziplin, die sich zu den Pluspunkten addiert, welche trotz aller zeitgenössischen Eigentümlichkeiten - das Frauenbild wäre einige Anmerkungen wert! - für einen Lektürespaß sorgen, den nicht viele 14. Bände einer Krimi-Serie bieten können.
Der vertauschte Casanova im Fernsehen
Zwischen 1957 und 1966 verkörperte Raymond Burr Perry Mason in der gleichnamigen TV-Serie, die 271 knapp einstündige Episoden zählte. Es wurde die Rolle seines Lebens, die er ab 1985 bis zu seinem Tod 1995 in einer langen Reihe spielfilmlanger TV-Episoden wieder aufnahm. The Case of the Perjured Parrot wurde 1958 in der zweiten Staffel kurz vor den Weihnachtstagen als Folge 11 erstmals ausgestrahlt. Hierzulande zeigte das Fernsehen zwischen 1959 und 1963 nur 23 Episoden. Erst drei Jahrzehnte später wurde die gesamte Serie erstmals präsentiert.
Fazit
Anwalt Perry Mason steht zum 14. Mal vor der Herausforderung, eine Unschuldige vor ungerechter Strafe zu schützen. Obwohl ausgiebig ermittelt wird, steht die Frage der juristischen Gewichtung von Indizien und die Auslegung von Gesetzen im Vordergrund eines Krimis, der seiner scheinbar trockenen Materie zum Trotz schnell und spannend geschrieben ist.
Erle Stanley Gardner, Scherz
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