Das fremde Kind
- Rowohlt
- Erschienen: Januar 2011
- 4
- Hamburg: Rowohlt, 2011, Seiten: 464, Übersetzt: Antje Rieck-Blankenburg
- Malmö: Damm, 2009, Titel: 'Det som ska sonas', Seiten: 319, Originalsprache
Herzensgut
Wer kennt das nicht? Man will mir der eigenen Vergangenheit nichts mehr zu tun haben, weil sie furchtbar war, bildet sich ein, einfach ein neues, ein besseres Leben zu beginnen, um der erlittenen Schmach, dem Schmerz zu entkommen. Den Journalisten Konrad wird diese innere Flucht bis nach Berlin führen. Er wird sein Heil in einer Ehe suchen, die zerbricht, im Alkohol, in der Schimäre eines Romans, den er nie beenden wird. Es ist schier unmöglich aus dem eigenen Leben auszusteigen, das muss auch Konrad einsehen. Sein Leben ist durch das Verschwinden der Mutter, die ihn alleine zurück gelassen hat, in Bahnen geworfen worden, denen er nicht mehr entrinnt.
Was ist aus der Mutter geworden? Ist sie tot? Hat man sie ermordet? Hat sie ihn einfach zurück gelassen? Was wenn er wirklich das Kind einer Hure ist? Was wenn all die Schmähungen, die er in der Kindheit erlitten hat, zutreffen? Man hat sich seiner erbarmt. Er wächst bei Adoptiveltern auf. Als Herman und Signe Jönson ermordet werden, kehrt er in seine südschwedische Heimat zurück, verheddert sich in den Fallstricken der eigenen Erinnerungen, wird selbst der Tat verdächtigt und sieht sich gezwungen, seine Kindheit auf der Suche nach der Wahrheit zu durchforsten.
Der 2009 als bestes Krimidebüt von der Schwedischen Krimi-Akademie ausgezeichnete Kriminalroman verdient ausnahmsweise einmal das Etikett Kriminalroman. Olle Lönnaeus erzählt die Geschichte einer Familie, die nie eine war, die schwer unter der Last einer Schuld trägt und ihr Befremden nicht nur dem Adoptivsohn Konrad gegenüber spürbar werden lässt, vielmehr sich unterschwellig in Selbstkasteiung übt. Der Glauben an den Herrn ist alles.
Eine der besten Szenen des Romans erzählt vom Besuch eines Pastors, der erbost darüber, dass Signe und Hermann es gewagt haben, sich einer anderen religiösen Gemeinschaft anzuschließen, sie wieder auf Spur bringt. Er schildert das innere Dilemma dieser Pflegefamilie und ihre Hilflosigkeit angesichts religiöser Werte, deren hehres Ziel aus den Augen verloren wurde. In dieser Familie ist man nur allzu gerne bereit, Schuld auf sich zu nehmen.
Der Autor beschreibt Konrads Nöte als Heranwachsenden, wie er sich sexuellen Phantasien hingibt, und soweit geht, anzügliche Liebesbriefe zu verfassen, die mit sexuellen Beschreibungen nicht hinter dem Berg halten. Sie werden nie abgeschickt werden. Allein dass er sie verfasst, erleichtert ihm das Leben. Gleichsam ein verklemmter, privater Ablass, der sich Tagträumen hingibt. Natürlich werden sie in falsche Hände geraten, ihn bloßstellen und ihn zu einer Tat verleiten, die er nie für möglich gehalten hat.
Doch Lönnaeus beschreibt auch die Nöte des später Verlorenen, der hofft, mit der Wahrheit über seine verschwundene Mutter, alle Wunden schließen zu können, um wie von Zauberhand sich befreit zu fühlen. Hinter allem taucht in Konrad ein Mensch auf, der das Leben als Kleinbürger nie überwunden hat, weil er sich Ruhe und Sicherheit für sich wünscht. Er will dazu gehören. Nur darf er es nicht. Sie lassen ihn nicht. Bis heute nicht.
Ein Spektakel fehlgeleiteter Psychen. Die Geschichte einer Mannwerdung. Wenn gegen Ende die Umstände des Verschwindens von Konrads Mutter bekannt werden, zeigt sich, wie ein Täter eine Handvoll Jugendlicher durch eine Art Initiation zu Männer hat werden lassen wollen. Sie letztendlich jedoch in den Abgrund gestoßen hat. Konrads Mannwerdung wird hingegen darin bestehen, sich der Wahrheit über sich und seine Mutter zu stellen.
Hier ist ein Erzähler am Werk. Kein Effekthascher. Hier kennt sich einer nach zwanzig Jahren beim "Sydsvenka Dagbladet" und investigativen Reportagen abseits seines Schreibtisches im Alltag seiner Figuren aus. Indem Olle Lönnaeus in ihrem Leben herumschleicht, findet er die Kälte menschlicher Grausamkeit, weil geschieht, was alles geschieht, weil sich einer als Verbrecher herausstellt, der in der Stunde zuvor noch ein guter Nachbar war, weil sich eine Familie zu einer Familie zusammenschließt, die ohneeinander nicht überlebensfähig wäre.
Das fremde Kind trägt jeder von uns in sich. Es erzählt davon, dass wir zurückgelassen werden und doch immer dazu gehören wollen.
Brillant erzählt.
Olle Lönnaeus, Rowohlt
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