In der Stille der Nacht
- Heyne
- Erschienen: Januar 2010
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- London: Orion, 2009, Titel: 'Still midnight', Seiten: 356, Originalsprache
- München: Heyne, 2010, Seiten: 476, Übersetzt: Conny Lösch
Polizei & Gangster im schottischen Dauerregen
Eddy, Pat und Malki, drei perspektivenlose Loser aus dem schottischen Glasgow, lassen sich für eine Entführung anheuern. Einen gewissen "Bob" sollen sie kidnappen, doch als sie nervös und überstürzt in das vom Auftraggeber angegebene Haus stürmen, finden sie dort nur die pakistanische Immigrantenfamilie Anwar vor. In ihrer Panik schnappen sie sich Aamir, den Vater, und verschleppen ihn.
Die polizeiliche Ermittlung müsste eigentlich Detective Sergeant Alex Morrow übernehmen. Ihr Vorgesetzter DSI MacKechnie, mit dem sie im Streit liegt, übergeht sie und übergibt den Fall dem weniger begabten aber pflegeleichten Karrieristen Grant Bannerman, den Morrow noch heftiger verabscheut. Dennoch kann sie die offensichtlichen Fehler des Kollegen weder ignorieren noch ihre Neugier zügeln.
Wer ist "Bob", für den absurde 2 Mio. Pfund Lösegeld gefordert werden, die nun für den Vater zu zahlen sind? Hat die Familie etwas mit der Entführung zu tun? Hinter der kultivierten Kulisse der Anwars treten diverse Brüche hervor. Die in ihrem schottischen Umfeld nur scheinbar integrierte Gesellschaft praktiziert neuerdings wieder den islamischen Glauben. Die misstrauische Polizei wittert terroristische Umtriebe, und auch Morrow hält Omar und Billal, Aamirs Söhne, für verdächtig.
Inzwischen gerät Aamir in Lebensgefahr. Der Auftraggeber weigert sich, ihn statt "Bob" in seine Obhut zu nehmen. Die drei Kidnapper stehen mit einer überzähligen Geisel dar. Während der besonnene Pat eine Eskalation zu verhindern sucht, denkt der psychotische Eddie an Mord. Nachdem Bannerman mit seiner nassforschen Methoden scheitert, holt MacKechnie Morrow im Wettlauf mit der Zeit zurück ins Ermittlungs-Boot. Doch eine wahre Lügen-Flut vernebelt den Fall, während Aamir beschließt, sich gegen seine Peiniger zu wehren &
Schottische Umtriebe im Dauerregen
In die noch zahlenschmale Riege schottischer Kriminalpolizisten reiht sich hiermit eine weitere Serien-Ermittlerin ein: Alex Morrow ist die Apotheose sämtlicher mürrischer, psychisch aus dem Lot geratener, von den Kollegen gemiedener und von den Vorgesetzten gehasster, privat auf Grund gelaufener Krimi-Helden. Was genau ihr zugestoßen ist, hält uns die Verfasserin zunächst vor. Als sie die Katzen nach und nach aus dem Sack lässt, haben wir das Interesse bereits verloren.
Dies ist das erste mehrerer Warnsignale, die schließlich in der erstaunlichen Erkenntnis münden, dass In der Stille der Nacht ein guter Krimi aber keine erfreuliche Lektüre darstellt. Zwar ist der Plot gut konstruiert und wird mit den dem Genre geschuldeten Verzögerungen und Verwicklungen entwickelt. Das Ergebnis lässt dennoch seltsam kalt.
Liegt es daran, dass Denise Mina sich höchstens am Rande für das Krimi-Element ihrer Geschichte interessiert? Moderne Krimis schwelgen gern und manchmal zu ausgiebig in Gesellschaftskritik und Politikverdrossenheit. Bis zur Seifenoper ist der Weg nicht weit und die Fahrbahndecke schlüpfrig. Doch nicht deshalb kommt Mina ins Rutschen. Sie meint es in jeder Sekunde bitterernst mit ihrem doppelten Psychogramm einer exotisch-dysfunktionalen Familie und einer gestörten Polizistin.
Spaß bleibt ausdrücklich ausgeschlossen!
"Bitterernst" ist das Stichwort. Denise Mina suhlt sich förmlich in der Gefühlskälte der Gegenwart. Auch Ian Rankin oder Stuart MacBride, die ihre Krimis ebenfalls in Schottland ansiedeln, verschließen nie die Augen vor den Schattenseiten des modernen, globalisierten, urbanen Alltags. Sie gönnen ihren Lesern allerdings Erholungspausen, die sie mit durchaus schwarzem Humor so unterhaltsam gestalten, dass die grundsätzliche Stimmung ihrer Geschichten darunter nicht leidet.
Mina verweigert ihrer Leserschaft jede Ablenkung. Immer neue Abgründe deckt sie stattdessen auf. Dies sorgt u. a. für einen Krimi, dessen gesamtes, kriminelles wie kriminologisches Figurenpersonal unsympathisch ist. Damit erregt die Autorin zweifellos unser Interesse, aber sie stößt ihre Geschichte gleichzeitig und buchstäblich in eine Grauzone. Trübsinnig schleppt sie sich dahin, während die ermittelnde Beamtin diverse Gangster trifft, sich mit dem Chef anlegt, den Kollegen hasst und den Gatten schurigelt. Für alle diese Finsternis gibt es gute Gründe, aber da wir unter ihnen förmlich begraben werden, wollen wir lieber flüchten als uns auf sie einlassen.
Noch mehr Elend als Hirngepäck
Eine ´Glanzleistung´ stellt übrigens wieder einmal die ´Übersetzung´ des Titels dar. In der Nacht des Überfalls auf die Familie Anwar geht es alles andere als still zu, und auch in den nächsten Nächten bleibt es turbulent. Tatsächlich spielt der Originaltitel "Still Midnight" auf die Geisterstunde in der Seele von Aamir Anwar an, der als Flüchtlingskind erlittenen Gräuel auch nach Jahrzehnten nur oberflächlich verarbeitet hat aber nie überwinden konnte; als Entführungsopfer wird er in diese dunkle Zeit zurückgeworfen.
Mina entwirft sehr aufwendig, solide recherchiert und politisch überaus korrekt das Psychogramm eines Mannes, der in Pakistan geboren wurde, mit der Familie nach Uganda auswanderte und dort in einen Bürgerkriegsterror geriet, dem er allein entkommen konnte. Nach Aamirs Ansicht hat er sich das Leben auf Kosten der Mutter erkauft; Mina zeichnet folgerichtig das Bild eines Mannes, der sich für sein Überleben schuldig fühlt. Dazu gehören seitenlange Rückblenden auf Aamirs Kindheit, die sicherlich (bzw. selbstverständlich) ernst gemeint aber so ketzerisch es klingen mag langweilig sind. In Aamirs Kopf läuft immer und immer wieder der Film des erlittenen Schicksals ab. Der Leser hat schon nach dem ersten Mal begriffen.
Die Sorgen der nächsten Generation
Immerhin widersteht Mina der Verlockung, den Plot mit einer 9/11-Motivdecke zu unterfüttern. Nahe hätte es gelegen: Eine islamische Familie steckt in einem nicht nur latent misstrauischen Umfeld. Das daraus resultierende Unrecht böte zuverlässig Stoff für ein gegenseitiges Aufschaukeln von Verdacht und Gewalt. Hier bricht Mina mit den Erwartungen. Die Anwars sind nur zum Teil fromm, und Terrorismus spielt keinerlei Rolle. In der Stille der Nacht bleibt in diesem Punkt ganz Krimi, das Verbrechen ungemein irdisch.
Tatsächlich sind die Anwars bereits besser integriert als ihnen lieb ist: Die schottische Unterwelt kennt keine Berührungsängste. Mina gelingt die Darstellung einer gänzlich glanzlosen kriminellen Realität: Brutale Proleten scheffeln Geld mit der gleichgültigen Ausbeutung und Misshandlung von Menschen. Sie haben keinen Stil, kennen keine Ganovenehre. Nicht nur für die Polizei, sondern auch für diese ´etablierten´ Verbrecher sind Eddy, Pat und Malki Instrumente, derer man sich bedient und entledigt.
Ähnlich trostlos sieht bei Mina der Polizeialltag aus. Jeder ist sich selbst der Nächste. Von oben wird getreten und der Druck nach unten weitergegeben. Seilschaften werden gebildet und gepflegt, Konkurrenten gemobbt, Ermittlungsergebnisse eifersüchtig gehortet. Alex Morrow gliedert sich perfekt in dieses Umfeld ein. Sie ist höchstens noch ein wenig hinterlistiger. Den Unterhaltungswert dieser Geschichte steigert das freilich nicht.
Am Ende ist alles umsonst
Die rumpelt ohnehin in Düsternis ihrem Finale entgegen. In der Stille der Nacht ist ein "Whodunit", denn unsere drei untalentierten Entführer haben einen Hintermann, der bis zum Schluss unsichtbar und unbekannt bleibt. Weil Mina mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl nicht nur winkt, sondern kräftig um sich schlägt, ist außerdem schnell klar, dass jemand in der Anwar-Sippe Dreck am Stecken hat. Pflichtschuldig werden beide Fragen beantwortet. Der Leser fragt sich unwillkürlich, ob dieser Sieg der Gerechtigkeit notwendig ist: Wäre die Strafe für alle Beteiligten nicht größer, beließe Mina sie im breit ausgemalten Elend?
Oder sind es die beiden angeflanschten Happy-Endings, die uns irritieren? Nachdem wir von der Autorin über 400 Seiten wie das Schnitzel im Paniermehl in Tristesse gewälzt wurden, bricht plötzlich die Wolkendecke über DS Morrow auf. Wen es interessiert, wie und ob der seelische Notstand beendet wird, darf sich auf ihren neuen Fall freuen, der 2011 unter schönen Titel "The End of the Wasp Season" (dt. Blinde Wut) erschienen ist.
Denise Mina, Heyne
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