Die Fantome des Hutmachers

  • Diogenes
  • Erschienen: Januar 1982
  • 2
  • Paris: Presses de la Cité, 1949, Titel: 'Les fantômes du chapelier', Seiten: 256, Originalsprache
  • Zürich: Diogenes, 1982, Seiten: 228, Übersetzt: Eugen Helmlé
  • Zürich: Diogenes, 2011, Seiten: 244, Übersetzt: Eugen Helmlé, Bemerkung: Ausgewählte Erzählungen, Bd. 27
Die Fantome des Hutmachers
Die Fantome des Hutmachers
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Matthias Kühn
98°1001

Krimi-Couch Rezension vonMär 2011

Sog, Atmosphäre & Boshaftigkeit<b>     <br></b>

 

Man schrieb den 3. Dezember, und es regnete immer noch. Die Zahl 3 hob sich riesig, ganz schwarz, mit einer Art dickem Bauch von dem grellen Weiß des Kalenders ab, der rechts von der Kasse an der Zwischenwand aus dunklem Eichenholz hing, die den Laden vom Schaufenster trennte. Es war genau zwanzig Tage her, die Geschichte war nämlich am 13. November passiert – wieder so eine dickbäuchige 3 auf dem Kalender –, seit die erste alte Frau in der Nähe der Saint-Sauveur-Kirche, einige Schritte vom Kanal entfernt, ermordet worden war.

 

Ist das nicht ein perfekter Start in einen Krimi? Ein Detail des Bühnenbilds steht, und es steht nahezu perfekt: Hier hat schon ein Sog begonnen, der erst auf der letzten Seite endet.

Dieser klassische Simenon-Sog ersetzt die im üblichen Thriller vorhandene Spannung, die sich aus der Ermittlung oder den einzelnen Taten entwickelt: An jenem dritten Dezember findet der arme jüdische Schneider Kachoudas, der wie so viele Simenonfiguren außerhalb der Gesellschaft steht, heraus, wer die ganzen Frauen umgebracht hat – sechs Morde gab es bereits. Ein Zufall, ein berufsbedingter Reflex zeigt es ihm. Und das passiert so:

Wie üblich geht der Schneider in die Kneipe, gleichzeitig mit dem angesehen Hutmacher Labbé. Die beiden Handwerker haben, abgesehen vom Kneipengang, kaum etwas gemeinsam: Labbé stellt Hüte her, neue Hüte, die sich die gehobene Gesellschaft leistet, und er wartet beispielsweise regelmäßig den Hut des Bürgermeisters. Schneider Kachoudas, der wenig gelittene Einwanderer mit sieben Kindern, stellt selten etwas her, schon gar keine Anzüge für die feine Gesellschaft; er bessert nur aus. Er nennt den Hutmacher: Monsieur Labbé; der nennt ihn: Kachoudas. Deshalb geht er auch ein Stückchen hinter Labbé durch den Regen.

Realistisches Meisterwerk psychologischer Literatur

Nun also betritt der Schneider als Zweiter die Kneipe, freudig begrüßt wird nur der Erste. Nach einer Weile darf Kachoudas immerhin mitspielen. Als er sich einmal nach vorne beugt, fällt ihm am Anzug des Hutmachers ein loser Faden auf, den er schnell bearbeiten will. Nur: Es ist kein Faden, sondern ein Fetzen Papier. Ein ausgeschnittenes Wort aus der Zeitung. Und da weiß der Schneider, wer der Mörder ist:

 

Doch es war nicht irgendein Zeitungsfetzen. Das Stück Papier war sorgfältig mit einer Schere aus einer Zeitung ausgeschnitten worden. Man hatte genau zwei Buchstaben ausgeschnitten, ein n und ein t am Ende eines Wortes. [...]
Anstatt das Papier wegzuwerfen, gab er es zurück, und das war ein Fehler, denn er gestand damit ein, dass er seine Bedeutung begriffen hatte.

 

Der Mörder schreibt nämlich regelmäßig Leserbriefe an die Zeitung, um Falschmeldungen zu widerlegen – mit Wissen, über das nur der Mörder verfügen kann; und die klebt er aus Zeitungen zusammen. Kachoudas weiß sofort: Er kann nicht zur Polizei. Einem einfachen Zuwanderer würde man nur Neid unterstellen; niemand würde ihm glauben. Wie soll ausgerechnet der von allen geschätzte Labbé, der auch noch seit langer Zeit seine gelähmte Frau so aufopferungs- und liebevoll pflegt, ein Serienmörder sein? Nein, das kann nicht sein. Und so wird Schneider Kachoudas, anstatt die Belohnung zu kassieren, die ihm Beruhigung verschaffen würde, ohne es zu wollen zum Komplizen.

Mörder und Mitwisser in unheilvoller Verbindung – für beide

Es ist ein schöner Trick Simenons, uns schon auf den ersten Seiten mitzuteilen, wer der Mörder ist. Es geht also nicht um den Fall, es geht nicht darum, ein Monster zu enttarnen, nein: Die Abgründe der bürgerlichen Psyche sind das eigentliche Thema. Denn von diesem Moment an sind die beiden miteinander verbunden. Labbé genießt seine Überlegenheit und ergötzt sich schließlich daran, seinen furchtvollen Entdecker wie einen Jünger zu behandeln. Und Kachoudas, im Bann des Bösen verhaftet, verfolgt den Hutmacher, um weitere Verbrechen zu verhindern. Angst und Selbstekel wechseln sich ab. Es ist manchmal kaum zu glauben, wie tief Simenon in die Köpfe seiner Figuren steigt und sie mit einer subjektiven Logik ausstattet. So stark wächst schließlich die Verbindung der beiden, dass sich Labbé nach der Erkrankung des Schneiders Vorwürfe macht: Der Hutmacher reagiert verstört; er braucht seinen Mitwisser noch. Diese Anteilnahme, die von außen fast schon widerlich erscheint, wird absolut glaubhaft und überzeugend geschildert.

Bleibt die Frage: Wie kommt ein solider Bürger wie Labbé dazu, plötzlich reihenweise Frauen mit Cellosaiten umzubringen? Simenon gibt in kleinen, einfühlsamen Notizen die Antwort. Die Figur Labbé, der wir hauptsächlich folgen, wirkt nicht wie das Konstrukt aus einem Roman: Zunächst das Morden aus akuter Not heraus; dann sein Selbstbild vom perfekten Mörder; seine Überheblichkeit im Wissen seiner Unantastbarkeit; erste Risse; der offensichtlich nahende Zusammenbruch. Alles ergibt ein stimmiges Bild.

Schnörkellose Übersetzung

Simenon, der sonst seine Romane in wenigen Tagen schrieb, machte mit Die Fantome des Hutmachers ungewöhnlich lange rum. Zuerst schrieb er zwei Erzählungen, in denen er sich an den Stoff herantastete. 1949 erschein schließlich der Roman – 1949! Es dauerte mehr als dreißig Jahre, bis die erste deutsche Übersetzung vorlag, 1982. An der klaren, schnörkellosen Übersetzung von Eugen Helmlé ist auch heute, weitere mehr als dreißig Jahre später, wohl kaum etwas auszusetzen. Wer die alte Ausgabe in die Finger bekommt: Das Buch erschien bei uns zur selben Zeit, zu der die Verfilmung von Chabrol in die Kinos kam. Da hatten sich wohl durch den Termindruck kleine Fehler in den Text geschlichen, die später rausgenommen wurden. So hieß es beispielsweise im eingangs zitierten Text: "Es waren genau zwanzig Tage her".

Ich war damals von Film und Buch sehr begeistert. Die Fantome des Hutmachers war mein erster Simenon – ein wunderbar böses Buch; damals war es also der beste Simenon, den ich je gelesen hatte. Weit nach unten gerutscht in der Liste ist er nie. Vielleicht liegt es auch daran, dass dieses Buch mich zum Simenonisten machte. In der Folge las ich vor allem weiterhin die Übersetzungen von Helmlé, oder ich vertraute Linde Birk. War keine schlechte Entscheidung, damals. Kann ich empfehlen, auch heute noch.

Die Fantome des Hutmachers

Georges Simenon, Diogenes

Die Fantome des Hutmachers

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