Splitterndes Glas
- dtv
- Erschienen: Januar 2011
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- London: William Heinemann, 2007, Titel: 'Gone to the ground', Seiten: 388, Originalsprache
- München: dtv, 2011, Seiten: 496, Übersetzt: Sophie Kreutzfeld
Bieder ist der Tod
John Harvey ist seit einigen Jahren auch in Deutschland nicht mehr nur Insidern als Meister des britischen Kriminalromans bekannt. Nach der famosen Frank-Elder-Trilogie aus den Jahren 2004 – 2006 erschienen in Deutschland zunächst die meisten Romane der ebenso lesenswerten Charlie-Resnick-Reihe, die größtenteils zwischen 1989 und 1998 entstanden ist. Mit dem nun in deutscher Fassung vorliegenden Splitterndes Glas aus dem Jahr 2007 eröffnet Harvey eine neue Reihe um den DI Will Grayson und DS Helen Walker, die in und um Cambridge ermitteln.
Ihr erster Fall führt sie in das Schlafzimmer eines Universitätsdozenten. Eines ehemaligen Dozenten, denn Stephen Bryan liegt ermordet vor den Ermittlern. Die Brutalität, mit der er erschlagen wurde, weist auf eine Beziehungstat hin, doch es sind auch Gegenstände aus dem Haus des Filmwissenschaftlers gestohlen worden, die andere Vermutungen zulassen. Seit einigen Wochen war er von seinem Lebensgefährten getrennt und besuchte seitdem die schwulen Szenebars in Cambridge. Lernte er hier seinen Mörder kennen? Außerdem arbeitete Bryan an einem Buch über eine englische Schauspielerin, Stella Leonard, die in den 50er-Jahren als junge Schauspielerin für Furore sorgte, sich dann überraschend aus dem Geschäft zurückzog und erst in den 80er-Jahren wieder in einer Fernsehserie auftrat. Ihr Leben endete in einem mysteriösen Verkehrsunfall.
Wühlte Bryan als Autor zu tief im Privatleben der Stella Leonard? War er auf ein Familiengeheimnis gestoßen, das Stellas Neffe Howard Prince, ein Baulöwe, mit allen Mitteln hüten wollte? Schreckte der rabiate Manager eventuell auch davor nicht zurück, den Tod des vehement nachforschenden Biographen in Auftrag zu geben? Zu bieder scheint das Leben und letztlich auch der Tod des Dozenten gewesen zu sein, als dass er nicht doch mit seinen Rechercheergebnissen eventuell irgendjemandem zu nahe gekommen ist.
Als Krimi kann auch Splitterndes Glas überzeugen, die Figuren haben jedoch noch nicht die Strahlkraft früherer Charaktere aus der Feder John Harveys. Aber während eine Figur wie Will Grayson vielleicht auch gar nicht mal das Potenzial dafür mitbringt, in Zukunft unter Umständen einmal interessant zu werden (zu normal sein Leben, zu gering seine Probleme), hat sich Harvey für die zweite Hauptrolle der Helen Walker einen weitaus tiefgründigeren Charakter ausgedacht. Eine attraktive, aber alleinstehende Frau im besten Alter, die von einem ehemaligen Liebhaber verfolgt wird. Echten Thrill verbreitet der Autor an den Stellen, wo Helen oder auch die Schwester des Ermordeten spätabends von Männern offenbar verfolgt werden. Wer ist das, der sich da an die Frauen, die beide auf ihre Art Licht ins Dunkel bringen wollen.
Mit fiktiven Drehbuchpassagen des fiktiven Films Splitterndes Glas lockert Harvey den Gang der Handlung auf. So erreicht er zwei Sachen: er weckt das Interesse für die Figur der verstorbenen Schauspielerin und kann die Haupthandlung damit auflockern. Mit jeder Szene, die zitiert wird, wächst so die Spannung, ob Motive für den Mord bereits in der über 50 Jahre alten Filmhandlung haben können.
Ob diese künstlich geschöpfte Erwartungshaltung letztlich dem Spannungsbogen gerecht wird oder nicht, das ist eine der Fragen, die nicht in dieser Rezension geklärt werden. Harvey präsentiert hier letztendlich einen routinierten, aber ausbaufähigen Auftaktroman zu seiner neuen Reihe. Der Nachfolger Far Cry erschien in England bereits 2009 und wird in Deutschland unter dem Titel Schrei aus der Ferne im Frühjahr 2012 erwartet. Dieser Roman wird dann schon Antworten auf die offenen Fragen bezüglich der Serientauglichkeit der Ermittler Grayson und Walker geben können.
John Harvey, dtv
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