Sein eigen Fleisch und Blut

  • Blanvalet
  • Erschienen: Januar 2011
  • 1
  • London: Penguin, 2009, Titel: 'Singing to the dead', Seiten: 509, Originalsprache
  • München: Blanvalet, 2011, Seiten: 480, Übersetzt: Andreas Helweg
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Jochen König
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonMär 2011

Was blieb von ihrem Leben, ein Lied, das niemand sang

"Wie schon ein Rezensionist angemerkt hat: Viel zu viele Personen mit ganz vielen nicht zu merkenden Namen sind in diesem Buch "wichtig" oder auch nicht.”

Schlechte Zeiten für Amazon-"Rezensionisten"; was viele verwirrte, wird beim zweiten Roman der schottischen Autorin noch weiter voran getrieben. Verschiedene Handlungsstränge, die erst nebeneinander her laufen, sich kreuzen, in die Irre führen, um dann doch wieder aufeinander zu treffen. Dazu noch eine Vielzahl von Figuren, von denen rund die Hälfte auch noch diese komischen britischen Dienstbezeichnungen (DI, DCI, DS etc.) trägt. Da muss man doch durcheinander kommen.

Muss man nicht. Denn Ramsay hat ihre Erzählung(en) und ihre Figuren im Griff. Zumindest über weite Strecken. Denn ihre Charaktere besitzen eigenständige Profile, sind dazu ambivalent genug, um Entwicklungen in unterschiedliche Richtungen zuzulassen. Selbst Randfiguren bleiben einprägsam. Nur selten wirkt es überkandidelt. Detective Sergeant Costellos Migräneanfälle gehören dazu; die sie derart aus der Bahn werfen, dass sie eigentlich dienstuntauglich geschrieben werden müsste. Doch die neue Chefin, DCI Quinn, greift seltsamerweise nicht durch, obwohl ihr Missfallen an Costellos Verhaltensauffälligkeiten zu Beginn des Öfteren zur Sprache kommt. Da werden logische Schlussfolgerungen der Dramaturgie geopfert. Jede Wette: Die "Migräne" bekommt im nächsten oder übernächsten Roman eine tragende Rolle.

Wetten werden nicht mehr darauf angenommen, dass die fünf(!) verschiedenen Handlungsstränge, die Ramsay auf den ersten 150 Seiten entwickelt, zum Ende hin eine Einheit ergeben werden. Ein Wagnis, denn der Leser wird allein gelassen mit all den unterschiedlichen Figuren, er wird in einen See aus scheinbar unzusammenhängenden Episoden und Eindrücken hinein geschmissen und darf sich selbst wieder peu a peu freipaddeln. Das wirkt etwas willkürlich und birst nicht gerade über vor Spannung. Caro Ramsay öffnet ihr kleines, höchst eigenes Kabinett und tut so, als wäre es die ganze Welt, durch ein Vergrößerungsglas betrachtet.

Das immerhin macht sie so virtuos, dass man dran bleibt, auch wenn man sich mitunter fragt: warum eigentlich? Doch irgendwann zieht der Roman das Tempo an, die Spannung, die aus der Sorge um erst zwei, dann drei vermisste Kinder und eine Vergiftungsserie entsteht, nimmt zu und immer bleibt die Frage: Was hat der alternde Rockstar Rogan O'Neill auf seiner Comeback-Tour durch Schottland damit zu tun?

Und hier zeigt die Autorin höchst eigenes und mutiges Geschick. Denn sie entwickelt eine Story, die den erfahrenen Leser schnell abwinken lässt. War ja klar, dass es um Kinderpornographie, Snufffilme möglicherweise und bestimmt Morde in Serie geht. There’s a new killer in town, die Verdachtsmomente sind da, und nichts spräche dagegen, dass sich Sein eigen Fleisch und Blut einreiht in die Phalanx der abstrusen Schlachthaus-Thriller, denen Logik, Nachvollziehbarkeit und irgendeine gesellschaftliche oder sonstige Relevanz völlig egal ist, Hauptsache, es geht so blutig und abstrus weiter wie nur möglich. Oder unmöglich. Doch da steigt Caro Ramsay aus. Konsequent.

Ihre geschilderten Verbrechen sind solche aus höchst nachvollziehbaren Gründen: lang erduldete Misshandlungen, Missachtung oder Hadern mit dem eigenen, traurigen Schicksal. Das so ungerecht oder gerecht ist wie das Leben selbst. Und so treffen sich Betrüger und Betrogene, Menschen, die ihre Talente vergeuden auf der Suche nach Vergeltung für erlittene Schmerzen, Menschen, die sich sorgen und trotzdem Fehler begehen; und solche denen das alles scheißegal ist. Am Ende werden Fälle zum Abschluss gebracht, doch beileibe nicht alles klärt sich auf. Und manches ist so banal, dass es schon wieder befremdlich erscheint. Eindrucksvolle Momente, von denen es einige gibt.

Leider muss auch einiges gebogen und heftig gebrochen werden, damit sich all die Geschichten im Umfeld des Glasgower Weihnachtsmarktes nicht nur treffen, sondern auch berühren. Der Strang um die Vergiftungen ist eher halbherzig entwickelt und führt letztlich nur zu einem Ergebnis, dass man auch in einer Kurzgeschichte von Roald Dahl oder Henry Slesar genauso und vielleicht sogar besser hätte finden können.

Doch immer, wenn das Polizeiteam im Mittelpunkt steht, die verwinkelten Gassen Glasgows vor sich, umgeben von Geheimnissen, Rätseln und dem alltäglichen Grauen, das in Hinterhöfen, auf vergammelten Spielplätzen oder in die Drogerie nebenan wohnt, läuft Sein eigen Fleisch und Blut zu wahrer Stärke auf. Kein geradliniger Thriller, der den Weg über das Entsetzen unter Umgehung des Kopfes direkt in die Magengrube des Lesers sucht. Ramsay traut sich was. Klappt nicht immer, aber der Versuch lohnt sich.

Manchmal sind verschwundene Kinder tatsächlich einfach nur verschwunden. Bis man sie ernsthaft sucht und findet. So einfach ist das. Oder so schwer.

PS.: Der deutsche Titel ist übrigens absolut hirnrissig und berührt keinen der Handlungsstränge auch nur annähernd. Der Originaltitel Singing out The Dead ist in jeder Hinsicht treffender.

Sein eigen Fleisch und Blut

Caro Ramsay, Blanvalet

Sein eigen Fleisch und Blut

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