Die Schatten von Belfast

  • Rütten & Loening
  • Erschienen: Januar 2011
  • 7
  • New York: Soho, 2009, Titel: 'The ghosts of Belfast', Seiten: 326, Originalsprache
  • Berlin: Rütten & Loening, 2011, Seiten: 400, Übersetzt: Armin Gontermann
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Stefan Heidsiek
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonMär 2011

Die Geister, die ich rief

Stephen King sollte sich vielleicht langsam Sorgen machen. Dem amerikanischen Bestseller-Autor, welcher jahrelang mit seinen Empfehlungen und Lobeshymnen auf den Buchdeckeln jede gefühlte zweite Krimi-Neuerscheinung als Meisterwerk angepriesen hat, wird scheinbar von James Ellroy und Ken Bruen immer mehr der Rang abgelaufen. Besonders letzterer ist spätestens seit seiner auch in Deutschland erfolgreichen "Jack-Taylor"-Reihe offensichtlich ein neuer Gradmesser im "Hardboiled"-Genre. Und das, insbesondere der so genannte "Irish Noir", ist wieder richtig gefragt. So verwundert es kaum, dass Bruens Name auch im Lesezeichen zu Stuart Nevilles Debütwerk Die Schatten von Belfast mit positiver Werbung für seinen nordirischen Kollegen zu lesen ist. Es bleibt jedoch die Frage: Kann man diesen inoffiziellen Gütesiegeln wirklich blindlings vertrauen? Oder gibt der ein oder andere Autor seinen Namen eventuell etwas zu leichtfertig her?

Eins steht jedenfalls fest: Beim Aufbau-Verlag hat man ein äußerst scharfes und gutes Auge für den besonderen Kriminalroman, welcher im gräulichen Einerlei des Mainstreams für Farbtupfer sorgt. Von Malla Nunns grandiosem und bitterschwarzem Noir-Erstling "Ein schöner Ort zu Sterben" bis hin zum kitschigen Knast-Krimi "P.O.W. - Gefangen" (inzwischen als Taschenbuch unter dem Titel "Das Camp" neu erschienen). Die Palette des Verlagsprogramms rütten & loening ist trotz der geringen Größe reich an Facetten und, ja, eben irgendwie anders. Genau dieses Attribut trifft auch auf Die Schatten von Belfast zu, welches uns die altbekannte Rache-Thematik in einem zwar nicht gänzlich neuen, aber bemerkenswert innovativen Gewand serviert.

Seit mehr als 65 Jahren hat er nun in Deutschland Bestand und ist für uns zur Selbstverständlichkeit geworden: der Frieden. In Irland konnte von ihm lange Zeit allenfalls geträumt werden. Jahrzehntelang tobte ein Krieg ohne wirkliche Fronten zwischen der IRA und den Unionisten, der tausenden Zivilisten das Leben kostete. Kollateralschäden, welche die jeweils andere Seite stets zum Anlass nahm ihrerseits Vergeltung zu üben. Das dieser Kreislauf der Gewalt überhaupt gestoppt wurde, ist angesichts der so verhärteten Fronten fast ein kleines Wunder. Ein Wunder, an den sich aber mancher immer noch nur schwer gewöhnen kann. Einer davon ist Gerry Fegan. Während des Höhepunkts des Nordirland-Konflikts galt er als der harte Mann der IRA. Zahlreiche Morde gingen auf sein Konto, bis er schließlich für viele Jahre ins berüchtigte Maze Prison wanderte. Als er nun im Jahre 2007 wieder herauskommt, hat sich die Welt verändert.

Seine einstigen Weggefährten haben sich mit der neuen Zeit arrangiert. Ehemalige IRA-Leute machen nun in Politik oder betreiben nebenbei das ein oder andere krumme Geschäft, um den Kitzel der Gefahr nicht gänzlich zu verlieren. Für Fegan jedoch bleibt dieser Frieden, dieses neue Belfast verschlossen. Seit seiner Zeit im Gefängnis wird er von den zwölf Geistern derer heimgesucht, die er auf dem Gewissen hat. Hartnäckig verfolgen sie jeden seiner Schritte, peinigen und martern sie ihn. Jeden Abend säuft Fegan sich ins Koma, um in Ruhe schlafen zu können. Doch die Schatten bleiben. Bis ihm eines Tages in einer Bar ein Ausweg gezeigt wird. Dort trifft er auf Michael McKenna, einen Jugendfreund aus IRA-Zeiten, der mittlerweile in der Politik seine Strippen zieht. Die Schatten wollen ihn tot sehen. Ihn und all die anderen, welche Fegan im Auftrag der IRA getötet hat. Dem bleibt keine andere Wahl. Er greift einmal mehr zur Waffe …

Wer sich nun Die Schatten von Belfast als eine Mischung aus "Ein Mann sieht Rot" und "The Sixth Sense" vorstellt, der liegt damit gar nicht mal so falsch, denn Nevilles Thriller verbindet die Rache-Elemente des klassischen Hardboiled äußerst geschickt mit einer Prise des Übersinnlichen, wobei er, trotz einer kurzen psychologischen Erklärung, es im Großen und Ganzen dem Leser überlässt, ob die Geister Realität oder nur Einbildung des Protagonisten sind. Wer mit solch mystischen Einflüssen jetzt wenig anfangen kann, sei aber vorab beruhigt. Neville baut Fegans Schatten nur dort ein, wo es wirklich notwendig ist und tut dies meist sehr dezent. Dennoch machen sie das Spannungselement dieses Krimis aus, da sie innerhalb der Handlung die Richtung angeben und man durch sie von Beginn an weiß, wie viele Menschen sterben müssen (Der englische Titel lautet deswegen auch "The Twelve"). Das trotz der düsteren Vergangenheit Gerry Fegan die Sympathien des Lesers hat, liegt dann auch nicht nur an dessen gezeigter Reue, sondern an dem Reiz der guten, alten Rache, welche aktuell zum Beispiel in "True Grit" wieder Bestens auf der Leinwand funktioniert. Wenn dann noch jemand das Gesetz in die Hand nimmt, der es selbst oft gebrochen hat, gewinnt die Geschichte natürlich zusätzlich an Faszination. Doch was hat Neville aus dieser sehr intelligent konzipierten Ausgangssituation nun gemacht?

Eine Beantwortung dieser Frage ist schwierig, da man Die Schatten von Belfast mit zweierlei, streckenweise sogar dreierlei Maß messen muss. Eins wird jedenfalls schon zu Beginn deutlich. Stuart Neville schreibt über ein Thema, das ihm nicht fremd ist und das er wohl jahrelang selbst als betroffener Bewohner dieser Region Nordirlands miterlebt hat. Nur so lässt sich jedenfalls erklären, wie sensibel und scharfsinnig er hier den brüchigen Frieden seziert, der eigentlich eher ein beidseitiger Waffenstillstand für die Öffentlichkeit ist.

Außerhalb des Rasters, unter der Oberfläche und im Verborgenen, wird weiterhin, wenn auch auf andere Art und Weise, Krieg geführt. Aus Bomben sind nun Rednerpulte geworden. Der Flecktarn wurden gegen den Nadelstreifenanzug ausgetauscht. Die IRA ist nicht tot, sondern lediglich Teil der Politik geworden. Nicht zuletzt auch deswegen, weil terroristische Anschläge spätestens seit dem 11. September keinerlei Akzeptanz mehr in der Bevölkerung finden. Der Nimbus des irischen Freiheitskämpfers ist verloren gegangen. Und die finanzielle Unterstützung irischstämmiger US-Amerikaner damit zu einem Rinnsal verebbt. Das wissen auf der anderen Seite auch die Briten, die ihre militärische Präsenz zwar reduziert, ihr Engagement in Nordirland aber keinesfalls aufgegeben haben. Stattdessen versuchen sie es nun mit Bespitzelung und Bestechung, um die im Untergrund operierenden Gegner im Zaum zu halten. In Die Schatten von Belfast ist der schottische Agent Davy Campbell ihr verlängerter Arm, dem man in den engeren Kreis der alten IRA-Riege eingeschleust hat. Als Gerry Fegan seinen Rachefeldzug beginnt, wird Campbell auf ihn angesetzt, da beide Seiten verhindern wollen, dass das Karfreitagsabkommen, der so genannte Stormont, nicht scheitert.

Hätte Neville in Punkto Figurenzeichnung dasselbe Feingefühl bewiesen, Die Schatten von Belfast hätte durchaus das Zeug zum Volltreffer gehabt. Hier offenbart sich aber sein Bezug zum Filmgeschäft (Neville ist Hand-Double für einen irischen Schauspieler), denn die Besetzung könnte so auch in einem Mafia-Schinken von Scorsese zu sehen sein. Das an sich wäre nicht gravierend, würde Neville sprachlich nicht so gestelzt ein ums andere Mal bunte Seifenblasen produzieren. Was in einem Drehbuch vielleicht funktioniert, beißt sich hier mit der knallharten, streckenweise sogar sehr brutalen Geschichte und sorgt für den ein oder anderen ungewollten Lacher. Nicht zum Lachen dagegen ist die Bearbeitung der deutschen Buchausgabe. Da Übersetzer Armin Gontermann bei Malla Nunns "Ein schöner Ort zu sterben" einen guten Job gemacht hat, ist hier wohl in erster Linie das Lektorat und besonders die Korrekturabteilung zu kritisieren. So viele fehlende oder falsch gesetzte Satzzeichen, Wörter und grammatikalisch holpernde Sätze hat man selten derart geballt auf einem Haufen gesehen. Ein Phänomen, das übrigens nicht nur im dem Rezensent vorliegenden Leseexemplar, sondern auch in der für immerhin 19,95 € käuflichen Ausgabe zu beobachten ist.

Das diese Lektorats-Versäumnisse dem Lesevergnügen nicht gänzlich abträglich sind, liegt letztlich besonders an einem: der Spannung. Die versprüht das Buch nämlich trotz aller Holperer bis zum Schluss und macht es dem Leser mitunter unmöglich, den Buchdeckel überhaupt zuzuklappen. Besonders das Ende gerät grandios düster und atmosphärisch, wenngleich, bedingt durch den Auftrag der Geister, natürlich auch etwas vorhersehbar.

Dem Rezensenten war das egal. Die Schatten von Belfast ist knallharte und rasante Hardboiled-Unterhaltung, welche einfach Laune macht und der man, nicht nur weil es sich um ein Debütwerk handelt, manchen Fehler gerne verzeiht. Wer Lee-Child mag, dürfte auch hier ordentlich auf seine Kosten kommen und sich auf die Fortsetzung, welche unter dem Titel "Collusion" auf englisch bereits erhältlich ist, freuen.

Die Schatten von Belfast

Stuart Neville, Rütten & Loening

Die Schatten von Belfast

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