Der vergessene Tote

  • Blanvalet
  • Erschienen: Januar 2011
  • 3
  • London: Hutchinson, 2007, Titel: 'Not in the flesh', Seiten: 266, Originalsprache
  • München: Blanvalet, 2011, Seiten: 384, Übersetzt: Eva L. Wahser
  • München: Blanvalet, 2013, Seiten: 384
Wertung wird geladen
Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2011

Verschüttet aber nur auf Zeit vergessen

Eigentlich sucht der alte Jim Belbury auf Old Grimble’s Field bei Flagford nach Trüffel-Pilzen, die auch in der englischen Grafschaft Sussex gedeihen. Stattdessen gräbt Hündin Honey eine knöcherne Totenhand aus der Erde. Die alarmierte Polizei birgt später das vollständige Skelett eines Mannes, der hier vor mindestens zehn Jahren verscharrt wurde.

Da dies heimlich und damit sicherlich in verbrecherischer Absicht geschah, werden Ermittlungen in Gang gesetzt. Zuständig ist die Kriminalpolizei von Kingsmarkham, wo der Fall an Inspektor Wexford geht. Die Nachbarn und der Eigentümer des Grundstücks werden befragt. John Grimble ist ein schwieriger Zeuge, der mit allen Behörden über Kreuz liegt, seit ihm untersagt wurde, auf Old Grimble’s Field Mietshäuser zu errichten. Vor elf Jahren hatte er in Erwartung der Baugenehmigung einen Abwassergraben anlegen lassen, der wieder zugeschüttet werden musste – eine Gelegenheit, die der unbekannte Mörder nutzte, um sein Opfer loszuwerden.

Auf dem Grundstück steht noch der Bungalow, den einst Grimbles Vater bewohnte. Der Sohn wollte ihn für die Neubauten abreißen. Da sich dieser Plan zerschlug, ließ er das Haus leer stehen und verrotten. Als die Polizei die Ruine routinemäßig durchsucht, entdeckt man im Kohlenkeller ein weiteres Skelett. Dieser Mann kam vor acht Jahren ums Leben, wie forensisch festgestellt werden kann.

Die Vermutung liegt nahe, dass zwischen den Knochenfunden ein Zusammenhang besteht. Allerdings bereitet es nach so vielen Jahren große Schwierigkeit, die Leichen zu identifizieren. Die Nachbarn verschanzen sich hinter kollektivem Unwissen, doch Wexford und seine ebenso kundig wie geduldig ermittelnden Kollegen stoßen auf diverse Lücken in diversen Alibis. Hier lässt sich ansetzen, bis Stück für Stück ein Verbrechen ans Licht kommt, wie es so komplex und bizarr nur das wahre Leben schreiben kann …

Bekannte Qualitäten

Wenn eine 76-jährige Autorin ihren 59. Thriller veröffentlicht, der gleichzeitig der 21. Band einer Serie ist, die 1964 gestartet wurde, darf sich der Leser vor allem auf eines einstellen: Routine. Der vergessene Tote bietet genau das, wenn man "Routine" als "in jahrzehntelanger Erfahrung gereiftes Handwerk" definieren möchte. Natürlich wohnt dem Wort eine weitere, weniger positive Bedeutung inne, die auf eine allzu großzügige Anwendung generell bekannter, oft verwendeter und nur variierter Plots und Figurenzeichnungen zielt. Auch das trifft auf Der vergessene Tote zu, wie selbst der enthusiastische Fan der Wexford-Romane von Ruth Rendell zugeben muss.

Beginnen wir mit dem Erfreulichen: Der vergessene Tote ist ein moderner Kriminalroman der alten englischen Schule. Darin liegt kein Widerspruch, setzt man die "alte Schule" mit jener Sorgfalt gleich, die angelsächsische Krimi-Meister beiderlei Geschlechts seit vielen Jahren in ein Genre investieren, das von der hehren Literaturkritik lange und zum Teil noch heute als schnöde Unterhaltung abqualifiziert wird – was selbst dann Unrecht wäre, träfe es zu.

Verbrechen – Ermittlungsstart – Irrtum und Sackgasse – Einkreisung des Täters – logische aber überraschende Auflösung: Die Eckpfeiler des "Whodunit" stehen fest in diesem Roman, der darüber hinaus in der unmittelbaren Gegenwart wurzelt und sich keineswegs in jene welt- bzw. alltagsabgeschiedenen Winkel zurückzieht, in denen sich der Rätselkrimi gern ansiedelt. Kingsmarkham mag eine fiktive Stadt sein, doch die geschilderten Probleme spiegeln die gegenwärtige Realität sehr wohl wider.

Kriminalistisches Treiben jenseits der Mode

Der Plot ist angemessen verzwickt aber nicht überkonstruiert. Gleich zwei Skelette unterschiedlichen Ablagealters werden entdeckt. Die vom krimilesenden Publikum erwartete Spannung resultiert u. a. aus der Frage, ob und in welchem Zusammenhang diese beiden Leichen stehen. Rendell biegt für den gewünschten Effekt die Gesetze der Wahrscheinlichkeit ein wenig zurecht, was indes höchstens den Puristen stören wird, für den glasklare (Krimi-) Logik das Maß aller Dinge ist.

Die gibt es hier nicht, und sie wird auch nicht vermisst, denn Rendell hat die Handlung so gut im Griff, dass logische Brüche und Schlampigkeiten im Detail – wieso kann ein Hund ausbuddeln, was vor Jahren mehr als metertief begraben wurde? – zur Kenntnis aber nicht übelgenommen werden. Außerdem liebt die Realität manchmal obskure Zufälle, die aufzugreifen sich mancher Schriftsteller nicht trauen würde.

Das Tempo ist gemächlich, denn die Ermittlungen werden von Profis durchgeführt, die ihren Job verstehen. In Kingsmarkham ist der Revieralltag nicht von Mobbing und Konkurrenzkämpfen gekennzeichnet, ohne die der moderne britische Polizei-Thriller kaum mehr auszukommen scheint. Zwar gibt es Konflikte, doch letztlich ziehen alle im Dienst der Sache – die hier altmodische Gerechtigkeit heißt – an einem Strang.

Wiedersehen mit alten Bekannten

Was moderne kriminalistische Techniken betrifft, bleibt Rendell eher vage. Ihre Krimis kommen ohne CSI-Wunder aus. Computer werden erwähnt, Handys genutzt, aber generell bleibt dieser Teil des Polizeiapparates im Hintergrund. Ermittelt wird noch vor Ort und mit sehr viel Fußarbeit. Rendell kann sich hier geschickt auf ihre Hauptfigur berufen: Wexford ist ein Veteran, der die Hightech akzeptiert, sie aber nicht selbst bedient. Einerseits muss er das aufgrund seines inzwischen erreichten Ranges nicht, andererseits will und kann er es im fortgeschrittenen Lebens- und Dienstalter nicht mehr. Dies passt zu ihm, denn Wexford ist ein Kriminalist, der Fakten nicht digital zusammenpuzzeln lässt, sondern sie analog im eigenen Schädel wälzt, bis sie sich zu einem Mosaik fügen, das die Tatgeschichte widerspiegelt.

Inzwischen haben Rendells Leser Wexfords Leben beruflich wie privat mehr als vier Jahrzehnte verfolgt. Der Inspektor ist älter geworden, aber er altert nicht in realen Jahren. Beliebte Nebenfiguren wie der Kollege und Freund Michael Burden treten auf, selbstverständlich sind auch Gattin Dora und der Rest der Familie wieder mit an Bord. Frühere Wexford-Krimis werden angesprochen; es hat sich über die Jahre eine Chronik entwickelt, die nicht nur die Familie Wexford, sondern auch die Stadt Kingsmarkham erfasst. Sie hat sich seit 1964 stark verändert, was das kriminelle Milieu ausdrücklich einschließt.

Schon früh wurden Wexford und seine Familie zu Schnittpunkten, an denen Rendell krimiferne Elemente knüpfen konnte. Der Polizist ist immer auch Mensch, und die Berücksichtigung dieses Aspekts ist im Krimi der Jetztzeit eine Selbstverständlichkeit – leider, muss man oft sagen, da die Grenze zwischen vertiefter Charakterisierung und Seifenoper schmal bzw. schmierig ist. Zwar begeht Rendell nicht den Fehler, den Krimi zum Beziehungsdrama mit schmückendem Krimi-Beiwerk herunterkommen zu lassen und ihre Werke dabei immer weiter aufzublähen – der Elizabeth-George-Faktor –, doch sie ist nicht immun gegen die Verlockung, ihre beliebten Krimis als Plattform für Botschaften zu nutzen, die ihr jenseits der Krimispannung wichtig sind.

Politisch korrekt & mit Botschaft

Noch als ironische Übertreibung könnte man den Eifer werten, mit der einige Rendell-Figuren sich in politisch korrektem Gutmenschentum förmlich aufreiben. Vor allem Detective Sergeant Hannah Goldsmith überschreitet mit ihrem unkontrollierbar gegen Chauvinisten und Umweltverschmutzer gerichteten Beißreflex die Grenze zur Lächerlichkeit. Allerdings gehört Rendell einer Frauengeneration an, die sich ihre Rechte buchstäblich erkämpfen musste und deshalb weiterhin wachsam mit dem Gewehr bei Fuß bereitsteht.

Zur Predigt entartet Rendell ein Subplot, der mit dem eigentlichen Kriminalfall nichts zu tun hat: Wexford und eine Gruppe ähnlich gesonnener Aktivisten bemühen sich, ein somalisches Mädchen vor der traditionellen Beschneidung zu retten. Zwar ist dieser barbarische Akt nicht nur in England gesetzlich verboten, doch er wird heimlich und notfalls im Rahmen eines Auslands-´Urlaubs´ vollzogen. Das Problem wird gern verdrängt, da die Beschneidung zu jenen undankbaren Themen gehört, mit denen man sich politisch nur in die Nesseln setzen kann. Rendell bezieht Stellung, doch ein Kriminalroman ist dafür der falsche Ort, wenn dies so didaktisch, mit betroffen erhobenem Zeigefinger und im Stil einer staatlichen Aufklärungsbroschüre vermittelt bzw. der Geschichte aufgeladen wird.

Die Wexford-Serie wird diesen unnötigen, selbst verursachten Tiefschlag überstehen. Schon die früheren 20 Bände waren nicht durchweg gelungen. Immer kam jedoch ein neuer Krimi, der den Leser wieder versöhnte. Auch diese Mal kann man darauf hoffen, denn Rendell ist keineswegs im Ruhestand: Nach Der vergessene Tote erschienen bereits zwei weitere Wexford-Krimis – eine erfreuliche Information.

Der vergessene Tote

Ruth Rendell, Blanvalet

Der vergessene Tote

Deine Meinung zu »Der vergessene Tote«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Dr. Drewnioks
mörderische Schattenseiten

Krimi-Couch Redakteur Dr. Michael Drewniok öffnet sein privates Bücherarchiv, das mittlerweile 11.000 Bände umfasst. Kommen Sie mit auf eine spannende und amüsante kleine Zeitreise, die mit viel nostalgischem Charme, skurrilen und amüsanten Anekdoten aufwartet. Willkommen bei „Dr. Drewnioks mörderische Schattenseiten“.

mehr erfahren