Der Killer stirbt
- Liebeskind
- Erschienen: Januar 2011
- 2
- München: Liebeskind, 2011, Seiten: 192, Übersetzt: Jürgen Bürger & Kathrin Bielfeldt
Wir leben, wir sterben ... und jetzt?
Ein Killer, der nicht mehr lange zu leben hat. Ein Polizist und seine sterbenskranke Frau. Der jüngere Partner des Cops. Ein allein lebender Junge, der seine Träume mit dem Killer teilt. Ein Buchhalter, der ins Visier mehrerer Killer gerät. Menschen, deren hauptsächliche Beziehung zum Leben Verlust ist. Und Tod. Vor allem der Tod.
These 1: Der Killer stirbt ist kein Kriminalroman. Die behandelten Verbrechen sind längst Geschichte. Polizisten ermitteln nur, um auf sich selbst zurück geworfen zu werden, um für einen kurzen Moment abgelenkt zu werden von dem Sterben, das sie persönlich betrifft. Besessenheit ja, aber bezüglich der Komplexität des Verbrechens, des Flechtens von Beweisketten und des Sammelns von Indizien. Stattdessen ein verzweifelter Kampf zu verstehen und damit zu leben, dass alles in Auflösung begriffen ist. Immerzu und Jederzeit. Kein Action-, kein Psychothriller, nichts mit gemütlichem Landhausmord- und Totschlag und zerdeppertem Porzellan. Stattdessen eine elegische Reflexion über das Sterben. Jenen Zeitraum des letzten Aufbäumens, das gleichzeitig ein Abgleiten ist in die Dunkelheit. Wortwörtlich. Natürlich Noir.
These 2: Der Killer stirbt ist ein Kriminalroman. Im Mittelpunkt der perfideste, unberechenbarste, berechenbarste, gnadenloseste und gnädigste Serienkiller, den es gibt. Der es nicht nötig hat, seine Opfer kunstvoll zu "drapieren", da sie immer so fallen, liegen, sitzen, stehen, sich Muster ergeben, die auf ihn und seine perfekte Art das Leben zu nehmen hinweisen. Der Tod höchstselbst, in seinen mannigfaltigen Varianten. Der Meister aller Masken, der sogar entblößt gerne verkannt wird. "Ich habe keine Angst vor dem Tod", sagte Woody Allen, "ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es passiert."
Sallis Protagonisten sind dabei, erleben das Sterben mit, ihr eigenes und das der Menschen, die sie lieben. Eine letzte Spurensuche, die finale Ermittlung, die Motive und Taten verbindet, nur um zu weiteren Motiven und Taten zu führen und dem abschließenden Befund:
Niemand sitzt allein in einem Raum. Wie sehr du dich auch von knirschenden Kieswegen fernhältst, früher oder später bist du in irgendetwas involviert.
Die Detectives Sayles und Graves sowie der Killer namens Christian versuchen augenscheinlich nur aufzuklären, wieso ein durchschnittlicher Buchalter ins Visier mehrerer professioneller Mörder gerät – und trotzdem überlebt. Doch dahinter stecken die tiefreichende Sehnsucht und der Wunsch, herauszufinden welches Beziehungsgeflecht Menschen und ihre Handlungen miteinander koppelt. Dass eine tiefgreifende Verbindung besteht, zeigt am deutlichsten das Beispiel Jimmies, der Christians (Alp-)Träume, auf teilweise sehr schmerzhafte Weise, als seine eigenen erlebt. Aber das steckt er weg. Vor allem, als er feststellt, dass es Verbündete gibt.
Der Killer stirbt ist ein Buch von unendlicher Traurigkeit. Sallis zeigt eine Handvoll Menschen, die auf unterschiedliche Art mit Verlust und Tod konfrontiert werden. Kriegserlebnisse, Polizeialltag, ein Junge, der von seinen Eltern im Stich gelassen wird und sich eine Scheinbiographie aufbaut, damit kein Außenstehender bemerkt, dass der Elfjährige allein lebt. Während der junge Jimmie als erfolgreicher Internet-Händler, freundlicher Altenheim-Vorleser und charmanter Lügner um seine Zukunft kämpft, müssen der Killer Christian und sein Pendant, der Polizist Sayles, lernen mit ihrer Vergangenheit abzuschließen und die Gegenwart zu akzeptieren. Sallis erzählt von all dem und noch viel mehr. Er tut dies nicht moralisch salbadernd und ausschweifend, sondern mit einer Präzision wie sie kurzen Tagträumen innewohnt, die scheinbar ziellos beginnen, fokussierter werden, um dann in einem einzigen, klaren Punkt zu kulminieren – bevor man erwacht. Dieses Erwachen kann Erkenntnis bedeuten oder den Tod. Manchmal auch beides.
Ähnlich wie Jerome Charyn dekonstruiert James Sallis gekonnt die Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Spannungsliteratur und setzt sie auf ganz eigene Art wieder zusammen. Ob Der Killer stirbt nun ein Kriminalroman ist oder nicht, ist dabei völlig egal. Der mit 250 Seiten nicht mal sonderlich umfangreiche Roman ist groß(artig)e Literatur; spannend, anrührend, ironisch und scharfsinnig. Wenn am Ende der verschwommene Blick des Killers auf einen Hund fällt, "der auf dem Bahnsteig stand und auf seinen Zug wartete", kann sich jeder Leser dazu gesellen, in dem Bewusstsein, an etwas ganz Besonderem teilgehabt zu haben.
James Sallis, Liebeskind
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