Hemmersmoor

  • Tropen
  • Erschienen: Januar 2011
  • 6
  • Stuttgart: Tropen, 2011, Seiten: 207, Originalsprache
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Dieter Paul Rudolph
93°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2011

Der Schauer des Alltäglichen

Man muss tief in die Geschichte der Kriminalliteratur eintauchen um zu erklären, warum "Hemmersmoor" zum Genre gehört, obwohl es kaum etwas mit ihm gemein hat. Krimis sind nicht deshalb Krimis, weil Morde geschehen (davon gibt es in Hemmersmoor mehr als genug), sie sind Krimis, weil ihr Spannungsaufbau nach bestimmten Mustern erfolgt. Die haben sich, wie ich zufälligerweise gerade anderswo erkläre, historisch entwickelt und ein Feld, auf dem man sich dabei bediente, war der Schauerroman, die Gothic Novel. Hemmersmoor ist nun ein solcher Schauerroman.

Bereits der titelgebende Ort ist das ideale Umfeld für Schauerliches. Ein abgelegenes Kaff in Norddeutschland, umgeben von Moor und Brachland, dem man entkommen will, aber eigentlich nicht entkommen kann. Einer, dem es gelungen ist, kehrt als alter Mann zurück und erinnert sich an seine Jugend in den frühen fünfziger Jahren, vier weitere Personen tun es ebenfalls. Leserin und Leser werden nun aus diesen unterschiedlichen Perspektiven abwechselnd über das Treiben in Hemmersmoor unterrichtet, es beginnt relativ harmlos, ein jährliches Dorffest mit Kochwettbewerb, doch ehe man sich’s versieht, werden die fünf Mitglieder einer Flüchtlingsfamilie von den empörten Einheimischen ermordet und verscharrt, eines dummen Aberglaubens wegen. Das kommt überraschend, aber man muss sich daran gewöhnen, denn im Folgenden endet beinahe jedes Kapitel mit einem Mord, erwähnen wir nur am Rande die übrigen Schandtaten wie Inzest, Kindesmisshandlung, Untreue und Verrat, Verbrechen allesamt, die scheinbar bei- und zwangsläufig geschehen und nicht wie im herkömmlichen Genreprodukt aufgeklärt und gesühnt werden.

Wer genau nach solchen Herkömmlichkeiten sucht, wird also enttäuscht sein und wer hinter diesem immerwährenden Abschlachten gar bloße Effekthascherei vermutet, gebe bitte seinen Doktor der Literaturwissenschaft zurück, so er einen besitzt. Wie schon in seinem Debüt, dem zurecht hochgelobten Nebenan ein Mädchen beschäftigt sich Kiesbye mit dem Heranwachsen, der Pubertät, doch seine Mittel sind nicht die des Entwicklungsromans, der Irrungen und Wirrungen aufzeigt. Bei Kiesbye ist alles überhöht, drastischer, die Phase des Kindseins endet dann, wenn die Eltern sämtliche Unschuld aus den jungen Körpern und Geistern getrieben, sie manchmal im wahrsten Sinne des Wortes ermordet haben.

Kehren wir zurück zum Schauerroman, den Kiesbye als formale Hülle für seine Geschichte ausgewählt hat. Der immense Erfolg dieses Genres im 18. und 19. Jahrhundert (von Horace Walpoles fast vergessenem Das Schloss von Otranto 1764 bis zu Mary Shelleys Frankenstein 1818) beruhte nicht allein auf dem gängigen Unterhaltungsbedürfnis, diesem wohligen Gruseln, dem man sich im heimischen Ohrensessel gefahrlos hingeben konnte. Im Schauerroman manifestierten sich auch kollektive Ängste, seien es die vor einer unbekannten und daher unbeherrschbaren Natur oder die durch technischen und ökonomischen Fortschritt aufziehenden Neuerungen, denen man zunächst mit einem gewissen Unbehagen gegenüberstand (hier wäre Frankenstein geradezu ein Paradebeispiel, aber auch der erst Ende des 19. Jahrhunderts von Bram Stoker ins "Leben" gerufene Dracula, der sein Grauen wie eine tödliche Epidemie verbreitet). Die meisten dieser Ängste werden im Alltag verdrängt oder verharmlost, sie werden hingenommen oder geleugnet – und genau hier setzt Kiesbye an, wenn er die Ängste der Pubertät, dieses Übergangs in eine fremde Welt des Erwachsenseins mit den drastischen Mitteln des Schauerromans beschreibt.

Konsequenterweise stellt Kiesbye das in den Mittelpunkt, was jede Pubertät dominiert: die Sexualität. Hier aber wird sie nicht, wie in den fünfziger Jahren gemeinhin üblich, einfach tabuisiert und verdrängt. Vielmehr wuchert sie wie eine giftige Pflanze und wird zur Waffe, die die Erwachsenen gegen ihre Kinder einsetzen. Und das alles in einer Welt, die voller Aberglauben und Mythen ist, da raunt man sich Spukgeschichten zu, fantert von in düsteren Kellern Gefangenen und schafft so ein adäquates Umfeld für die Verbrechen, die man an der Unschuld der Kindheit begeht. Am Ende sind die Kinder nicht nur Opfer, sie sind auch Täter, seelisch Ermordete, die nun ihrerseits seelisch zu morden beginnen. Sie sind also "normal" geworden, und das genau ist eben das Ungeheuerliche.

Man tut, wenn man sich auf Hemmersmoor einlässt, gut daran, sich bei diesem Text zu gruseln. Nicht über die völlig aus dem moralischen Lot geratene Handlung, sondern über die dahinter lauernde Alltäglichkeit. Auch das ist eben "Schauerliteratur": Im Verdrängen, wie es der Roman thematisiert, die eigenen Verdrängungen erkennen. Kiesbye weitet diese Perspektive schließlich ins Historische, wenn eines der Kinder mitten im Moor einen Ort entdeckt, der perfekt verdrängt wurde: ein Arbeitslager für Gefangene während der NS-Zeit, ein KZ also. Jetzt schließt sich der Kreis.

Und was ist daran nun "Krimi"? Nichts und alles. Kiesbye gelingt es, die archaischen Muster von Spannungsliteratur auf etwas so "Normales" wie das Erwachsenwerden zu übertragen und die Hölle zu zeigen, die dahintersteckt. Verbrechen des Alltags eben, die niemals aufgeklärt werden. Hier haben die "Gesetze des Genres" keine Gültigkeit, aber das abgrundtief Böse in seiner Normalität ist allgegenwärtig. Großartig, lesenswert.

Hemmersmoor

Stefan Kiesbye, Tropen

Hemmersmoor

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