Tödliches Wasser
- Zsolnay
- Erschienen: Januar 2011
- 2
- New York: Minotaur, 2012, Titel: 'Don't cry, Tai lake', Seiten: 262, Originalsprache
- Wien: Zsolnay, 2011, Seiten: 301, Übersetzt: Susanne Hornfeck
- München: dtv, 2013, Seiten: 301
Die Welt erlangt erst Bedeutung, wenn man ihr welche verleiht
Oberinspektor Chen Cao hat Urlaub. Anstelle des verhinderten "Genossen Parteisekretär" Zhao darf er eine riesige Villa in einem "Erholungsheim für Kader" in Wuxi beziehen. Was gleich bei Chen für Verwunderung sorgt. Denn der Pomp und Luxus des Erholungsgebietes weist eher auf westliche Dekadenz hin, denn auf eine Gesellschaft, die auf Gleichheit beruht. Und die Geschichte dieser Sonderbehandlung für "hohe Kader", die fein von normalen Touristen getrennt ihren Urlaub verleben, ist mehrere Jahrzehnte alt.
Hier zeigt sich schon das Hauptthema, das Qiu Xialongs sechsten Roman um den Polizisten und Literaturdozenten Chen Cao beherrscht: Der auch äußerliche Wandel Chinas zu einer kapitalistischen Gesellschaftsform. In ihrer radikalsten Ausprägung.
Chen fühlt sich nicht sonderlich wohl in seinem Palast und beginnt Wuxi zu durchstreifen. Da, wie schon im Vorgänger, Essen, neben Literatur und Verbrechen, eine wichtige Rolle im Leben des Oberinspektors einnimmt, wird das kleine Lokal "Onkel" Wangs zu seiner Zufluchtsstätte.
Hier lernt er die Umweltbeauftragte der "Chemiefabrik Nr. 1 Wuxi" Shanshan kennen und verliebt sich in sie. Shanshan zeigt und erklärt ihm wie hoch der ehemals klare Taihu-See mit Schadstoffen belastet ist, und dass gerade das, dem Börsengang entgegen strebende, Werk, in dem sie als Umweltbeauftragte angestellt ist, einer der Hauptverschmutzer ist. Shanshans Bemühungen um Umweltschutz werden hingegen, besonders von ihrem direkten Vorgesetzten Liu, munter torpediert.
Als dieser ermordet wird, gerät Chens Schwarm prompt unter Mordverdacht. Sehr zur Erleichterung Chens verliert sein Urlaub dadurch den Schrecken drohender Langeweile. Inkognito "begleitet" er die Ermittlungen, unterstützt vom jungen Wachtmeister und Verehrer seiner Person, Huang.
Einmal mehr ist Qiu Xialong ein scharfsinniger und scharfer Kritiker seines Geburtslandes. Er lässt seinen Oberinspektor Chen Cao auf die Spur eines Umweltskandals kommen, der bis auf ein paar Umweltaktivisten und Anwohner rund um den Taihu-See, niemand interessiert. Im Gegenteil, die Menschen, die sich gegen die zerstörerischen Machenschaften der "Chemiefabrik Nr. 1 Wuxi" wenden, werden überwacht, schikaniert oder stehen wie Shanshan, trotz offiziellen Auftrags, als Störfaktor kurz vor der Entlassung. Denn noch immer gilt Deng Xiaopings Leitsatz: "Fortschritt ist die oberste Priorität." Außer Lippenbekenntnissen und Scheinaktivitäten, um vor allem das Ausland und seine Presse zu beruhigen, bleibt kein Platz für Umweltschutz.
So nimmt es auch nicht Wunder, das ausgerechnet Shanshan als eine der ersten Tatverdächtigen gilt, bevor sich die "Innere Sicherheit" auf den Umweltaktivisten Jiang stürzt, um ihm den Mord an dem Fabrikdirektor Liu anzulasten.
So gibt es für Chen alle Hände voll zu tun, um Shanshan vor den behördlichen Häschern zu schützen. Legt Lius betrogene Ehefrau doch ein seltsames Verhalten an den Tag und auch der geplante Börsengang, der Liu eine Menge Aktien und damit erheblichen Reichtum bescheren würde, ruft Neider auf den Plan.
Qiu zeigt einmal mehr ein Land, dessen kommunistisches Manifest längst eine Hohlformel geworden ist. Es regiert die reine Profitgier, die ein schnelles Wirtschaftswachstum um jeden Preis propagiert. Hohe Parteikader, Vetternwirtschaft und die rigide Abteilung der "Inneren Sicherheit" machen es redlichen Polizisten schwer, ihre Arbeit zu tun. So weiß Chen genau, dass er sich auf einem schmalen Grat bewegt, immer in Gefahr, irgendwann herunter zu fallen. Noch hat er den Ermittlungserfolg und seinen Gönner, den integeren Parteisekretär Zhao, auf seiner Seite. Doch das ist ein fragiles Gefüge, und Chen erkennt am Ende resigniert an, dass er, bei aller Erschütterung über die konsequente Vernichtung der Natur und ihrer Ressourcen, sein Polizistendasein für den engagierten Kampf gegen das politische System und seine Machenschaften, nicht aufs Spiel setzen würde. Was Tödliches Wasser zu einer melancholischen, modernen Casablanca-Version werden lässt, in der sich Humphrey Bogarts chinesisches Alter Ego eingestehen muss, dass er seine Autarkie längst verloren hat, und der tragische Antiheld nicht weit von der tragikomischen Witzfigur entfernt ist. Glücklicherweise hat Chen, der ja nicht nur Polizist, sondern gleichfalls angesehener Literat und Übersetzer ist, immer ein Gedicht parat, um Trost zu finden.
Ein wenig übertreibt es Qiu Xialong mit der Belesenheit seiner Hauptfigur, die alle naselang die Spruchweisheit eines altehrwürdigen Dichters auf den Lippen hat, und nicht nur Ross, sondern auch Reiter benennen kann. Und dies auch gnadenlos tut. Wenn er nicht gerade selbst ellenlange Gedichte schreibt. Aber Chen ist verliebt und so ist plausibel, dass seine poetische Ader über die Maßen sprudelt. Womit er die Menschen um ihn herum, insbesondere Shanshan, regelmäßig beeindruckt. Als Leser sollte man einen Hang zu poetischer Durchdringung und chinesischem Gedichtgut besitzen, um Tödliches Wasser durchgehend genießen zu können. Tiefen Respekt für die Arbeit der Übersetzerin Susanne Hornfeck. Die Bücher Qius dürften eine Herausforderung sein.
Tödliches Wasser ist ein bisschen wie seine Hauptfigur: beredt, ruhig, abgeklärt, klug, charmant und von hintergründigem Witz beseelt. Manchmal ein wenig zu sehr in die eigene Gelehrtheit und Erklärungswut verliebt, aber immer interessant, nachdenkenswert und von einer sanft fließenden Spannung, die bis zum Ende bei der Stange hält.
Auch wenn Chen in der Ferne weilt eine gute Zugstunde von Shanghai immerhin - bekommen dankenswerterweise Chens Kollege Yu und seine resolute Frau Peiqin ihren Auftritt, und der Leser einen unaufdringlichen und vergnüglichen Einblick in den Alltag einer chinesischen Großstadt, der zudem wesentliches zur Klärung des Mordfalles beiträgt.
Wenn auch Tödliches Wasser nicht restlos an Spannung und Kunstfertigkeit seines Vorgängers Blut und rote Seide heranreicht, bleibt Qiu Xialong ein höchst lesenswerter Autor von ganz eigener Qualität, der uns hoffentlich in dieser Form noch lange erhalten bleibt.
PS.: Ein Roman, der in China spielt und Konfuzius, Edgar Allan Poe, Sherlock Holmes, Casablanca und Ludwig Wittgenstein integriert, ohne aufgesetzt zu wirken das macht Herrn Qiu so schnell keiner nach.
Xiaolong Qiu, Zsolnay
Deine Meinung zu »Tödliches Wasser«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!