Kidnapping

  • Bastei Lübbe
  • Erschienen: Januar 1993
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  • New York: Bantam Books, 1991, Titel: 'Stolen away', Seiten: 514, Originalsprache
  • Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, 1993, Seiten: 668, Übersetzt: Uwe Anton
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Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2024

Gangster, Helden und andere Strolche.

Im März des Jahres 1932 beherrscht die Entführung eines prominenten Kleinkinds die US-Medien: Aus dem neuen Heim der Familie im US-Staat New Jersey verschwand der zweijährige Sohn des Fliegerhelden Charles A. Lindbergh, welcher fünf Jahre zuvor im Alleinflug nonstop den Atlantik überquerte hatte. Die Aufregung ist gewaltig, denn Lindbergh ist eine lebende Ikone und verheiratet mit der schönen Schriftstellerin Anne Morrow, deren Familie zur High Society der USA gehört.

Die Ermittlungen sind ein Durcheinander. Sogar Gangsterboss Al Capone will den verzweifelten Eltern helfen, obwohl er derzeit im Gefängnis sitzt. Lindbergh ist wenig kooperativ; er führt private Verhandlungen mit den Kidnappern und lässt sich aufgrund seiner Berühmtheit nicht kontrollieren. Auf sämtlichen Polizei- und Justizebenen kämpft man mehr um Kompetenzen und Ruhm, als nach Spuren zu suchen.

Aus Chicago wird der junge Polizeibeamte Nate Heller auf das Lindberg-Anwesen geschickt. Ihm gelang gerade die Aufklärung eines anderen Entführungsfalls, weshalb die Eltern von Charles jr. auf seine Kompetenz hoffen. Heller bekommt einen Logenplatz in dem außer Kontrolle geratenen Ermittlungsapparat. Er gerät in den Sog der Ereignisse, legt sich mit ‚konkurrierenden‘ Kollegen an, muss nach Lindberghs Willen mit Wahrsagern, Gaunern und Amateuren zusammenarbeiten.

Während mehrere Lösegeldübergaben scheitern, sich die Ereignisse überschlagen und schließlich in der befürchteten Tragödie gipfeln, kommt Heller der Wahrheit und einem Komplott auf die Spur. Als ein Verdächtiger festgesetzt wird, der aufgrund von Indizien allzu perfekt in die Täterrolle passt, beginnt ein Wettlauf mit unsichtbaren Mächten, die unbedingt und mit allen Mitteln vermeiden wollen, dass die hässliche Wahrheit ans Licht gerät. Heller kann und will nicht aufgeben. Viele Jahre kehrt er immer wieder zum Lindbergh-Fall zurück. Als er schließlich unter buchstäblicher Lebensgefahr die Wahrheit in Erfahrung gebracht hat, wird und darf sie nie den Weg in die Geschichtsbücher finden ...

Held im Zwielicht

Es galt nicht nur in den USA als eines der spektakulärsten Verbrechen in einem an kapitalkriminellen Taten nicht armen Jahrzehnt. Die Entführung, die monatelange Ungewissheit und der Fund des Kindes, das wohl schon in der Nacht seines Verschwindens starb und unweit des Lindbergh-Hauses im Wald verscharrt wurde, sorgte für einen Medienrummel, der nicht nur die Massen, sondern auch hochrangige Politiker in den Bann zog sowie dafür sorgte, dass Justiz und Polizeibehörden das Recht nach dem Willen Lindberghs beugten.

Dass Bruno Gerhard Hauptmann für die Tat als Alleinverantwortlicher auf dem elektrischen Stuhl landete, ist ein Ermittlungs-Trauerspiel, das bis auf den heutigen Tag entsprechend heiß diskutiert wird. Hauptmann mag involviert gewesen sein, doch womöglich war er nur ein unschuldiger Pechvogel, der in die Fahndungsmaschinerie gesogen wurde. Da diese so schludrig arbeitete und der Vater des Opfers die Ermittlungen intensiv beeinflusste, wird sich die Wahrheit wohl nie mehr herausfinden lassen.

Charles Lindbergh kommt bei Max Allan Collins nicht gut weg. Dabei hält sich der Autor noch zurück, weist immer wieder auf die Angst des Vaters hin, der die Polizeiarbeit auch deshalb konterkariert, weil die Kidnapper ihm verboten haben, das Verschwinden von Charles jr. öffentlich zu machen. Doch Lindbergh ist außerdem ein willensstarker oder besser störrischer Mann, der beratungsresistent immer neuen Hoffnungen hinterherjagt und sich auf diese Weise als Opfer für Verbrecher anbietet, die gar nichts mit der Entführung zu tun haben, aber trotzdem Geld aus dem Fall herausschlagen wollen.

Keine Chance für die Wahrheit

Als Collins „Kidnapping“ schrieb, wusste er noch nicht von Lindberghs bestgehüteten Geheimnis. Dass er ein Antisemit war, mit den Nazis sympathisiert und den Kriegseintritt der USA öffentlich verurteilt hatte, war beinahe in Vergessenheit geraten. Ende des 20. Jahrhunderts stellte sich jedoch heraus, dass Lindbergh, der Held und tragische Vater, in Deutschland drei (!) geheime ‚Nebenfrauen‘ verborgen gehalten und mit ihnen sieben weitere Kinder gezeugt hatte. Vor seinem Tod 1974 beschwor er seine ‚Zusatzfamilien‘ schriftlich, das für ihn rufschädliche Geheimnis unbedingt zu bewahren!

Nachträglich fügt sich diese Charakterschwäche in das von Collins gezeichnete Bild. „Kidnapping“ ist noch stärker als sonst eine Mischung aus Fakten und Fiktion. Nate Heller gerät seit dem Start der Serie 1983 immer wieder dorthin, wo sich beide treffen. 1906 geboren, wird Heller zu einem Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts, wobei es ihn dorthin verschlägt, wo Politik, ‚Geschäft‘ und Verbrechen sich verschwören und Verbrechen aushecken, deren ‚offizielle‘ Aufklärung einer intensiven Untersuchung nicht standhält. Böse Mächte hüten hinter den Kulissen diese Geheimnisse, weshalb Heller die jeweilige Wahrheit zwar in Erfahrung bringt, damit aber nie an die Öffentlichkeit gehen kann; ein Kunstgriff, der die Unwahrscheinlichkeit der Tatsache bemäntelt, dass ausgerechnet ein kleiner Privatdetektiv eine lange Reihe von Rätseln löst, an denen Generationen von Historikern gescheitert sind.

Dem ausführlichen Nachwort ist zu entnehmen, mit welcher Intensität Collins sich dem Thema gewidmet hat. Er ist begeistert von der (kriminellen) Vergangenheit und hat sich über die Jahrzehnte zu einem fachkundigen Spezialisten entwickelt. Durch unzählige Originalpublikationen und Sekundärliteratur hat sich der Autor gefressen und daraus seine persönliche Sicht auf die Lindbergh-Entführung gewonnen.

Es könnte so gewesen sein ...

Collins steht mit seinen Theorien nicht allein. Dass beispielsweise gar nicht Charles jr., sondern ein ‚Stellvertreter‘ 1932 starb, wurde und wird weiterhin erörtert. In gewisser Weise ist es mit der Lindbergh-Entführung wie mit dem Attentat auf John F. Kennedy: Viele Menschen wollen einfach nicht glauben, dass ein solch spektakuläres Verbrechen von einer Einzelperson begangen werden kann: Dahinter muss einfach eine vielfach vernetzte Verschwörergruppe stecken! Diese Sichtweise beruhigt, denn sie wirkt ‚logisch‘, während man sonst glauben müsste, dass jedes Baby dieser Welt verschwinden könnte.

Auch sonst greift Collins die Ungereimtheiten des Lindbergh-Falls (manchmal etwas zu ausführlich) auf. An dieser Stelle soll darauf nicht im Detail eingegangen werden. Anzumerken ist, dass man als Leser an der tradierten Geschichtsschreibung zu zweifeln beginnt: Es könnte so gewesen sein ... - eine Überzeugung, deren Unbestimmtheit Collins in dem erwähnten Nachwort selbst redlich betont. Lückenhafte Fakten und Fragen können so sortiert und ausgewertet werden, dass sie einem bestimmten Hergangsbild entsprechen. Collins hat dies getan, aber er ist vor allzu lauter Kritik sicher: Schließlich ist „Kidnapping“ ein Roman!

Der schleppt sich phasenweise wie schon angedeutet ein wenig dahin. Collins weiß viel und möchte uns viel mitteilen. Nate Heller ist unermüdlich im Einsatz, um diese ‚fiktiven Fakten‘ mit Leben zu erfüllen. Immer gelingt das nicht. Die deutsche Ausgabe zählt 670 eng bedruckte Seiten. Der rote Faden verliert sich darin, zumal Collins die Ereignisse zwar chronologisch, aber nicht stringent erzählt: Die Handlung umfasst drei Teile und einen Epilog und springt über mehrere Jahre und Jahrzehnte, bis der alt gewordene Heller den ebenfalls angegrauten Charles jr. in dessen Lebensgeschichte einweiht.

Abermals trifft Heller auf unzählige reale Figuren der Zeitgeschichte, darunter den „unbestechlichen“ Eliot Ness, aber auch auf Al „Snorky“ Capone, seinen Nachfolger Frank Nitti, die reiche Philanthropin Evalyn Walsh McLean (die auch für die in einem Heller-Roman typischen ‚erotischen‘ Einlagen zuständig ist), den ‚Seher‘ Edgar Cayce und, und, und ... Die Liste will kein Ende nehmen. Glücklicherweise berichten uns am Ende der alte Heller und nachwörtlich Autor Collins, wer wo einzusortieren und was aus ihm oder ihr geworden ist; auch dies ist typisch für einen Nate-Heller-Roman und verdichtet jenen Nostalgie-Faktor, der sich zu einem (überwiegend) spannenden und vor allem mit glaubwürdigen Figuren besetzten, wahrhaften Historien-Krimi fügt (sowie schmerzhaft daran erinnert, dass hierzulande nur eine Handvoll der ausgezeichneten Heller-Thriller übersetzt wurde).

Fazit

Band 5 der seit Jahrzehnten laufenden Nate-Heller-Serie greift auf typische Weise einen nie wirklich geklärten Kriminalfall auf, um ihn geschickt in ein Gefüge historischer Fakten einzuarbeiten. Zwar manchmal zu ausführlich, aber insgesamt fesselnd entwickelt der Autor ein nicht zwangsläufig schlüssiges, aber mögliches alternatives Bild: So verklammert man Fakten mit Fiktionen!

Kidnapping

Max Allan Collins, Bastei Lübbe

Kidnapping

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