The Lost
- Heyne
- Erschienen: Januar 2011
- 2
- New York: Leisure Books, 2001, Titel: 'The lost', Seiten: 394, Originalsprache
- München: Heyne, 2011, Seiten: 420, Übersetzt: Joannis Stefanidis
Wenn das Weltbild eines Verlierers zerbricht
Ein Haufen kaputter Existenzen in einem Kaff am Ende der Welt. Das ist die Kulisse für den neuen Roman von Jack Ketchum. Und wie sein großes Vorbild Stephen King walzt der Autor die Nichtigkeiten in dem amerikanischen Provinzort gnadenlos und bis zum Exzess aus. Der Prolog spielt sich jedoch zunächst auf einem Campingplatz im Wald ab. An einem heißen Sommertag werden zwei junge Frauen zum Opfer für den psychopathischen Teenager Ray, der sie einfach töten will, weil er die Möglichkeit dazu hat. Seine Freunde Tim und Jennifer sind völlig hilflos und schauen tatenlos zu. Ray kommt zunächst ungeschoren davon, aber zwei Provinz-Cops lassen nicht locker. Während Ed Anderson längst den Dienst quittiert hat, weil er es nicht mehr ausgehalten hat, gibt Charlie Schilling keine Ruhe, und stellt neue Nachforschungen an, als das zweite der angeschossenen Mädchen nach vier Jahren qualvoll stirbt.
Charlie will Ray zur Strecke bringen, um fast jeden Preis. Das Problem für den Detective ist, dass der psychopathische Ray Pye von seinen Freunden Jennifer und Tim gefürchtet und vergöttert wird – sie halten absolut dicht, denn sie ahnen nicht im Geringsten, wie weit der Größenwahn des in ihren Augen charismatischen Ray geht. Und dann überstürzen sich die Ereignisse, in jenem Sommer, in dem Amerika von zwei Ereignissen geprägt und neu definiert wird. Das Woodstock-Festival der Love&Peace-Generation führt alle Illusionen über ein anderes, friedliches Leben zu einem Höhepunkt, der zum Mythos für viele Jahre wird. Aber die brutalen Manson-Morde an der Schauspielerin Sharon Tate und ihren Freunden inspirieren ganz andere Typen von Menschen. Und zu ihnen gehört Ray Pye.
Er lebt ohnehin immer nur einen Schritt vom Abgrund entfernt. Seine kleine Scheinwelt aus Drogen, Sex und krankhaftem Egoismus dreht sich nur um ihn selbst und seinen "Hofstaat". Aber dann wird er von einigen Mädchen zurück gewiesen, in seinen Augen sogar herum geschubst – und dreht völlig durch. Es kommt zu einer Orgie von Gewalt, die unvorstellbare Dimensionen annimmt. Tim und Jennifer stecken mitten drin – und es gibt ein mehr als dramatisches Finale.
Das in Deutschland neu veröffentlichte Werk von Jack Ketchum zu beurteilen ist nicht so ganz einfach. Also nähern wir uns schrittweise an. Zunächst würde ich das Buch in keinem Fall als Horror-Roman einstufen – warum es bei Heyne unter dem Label "Hardcore" erscheint, ist mir ein Rätsel. Die Morde am Anfang leiten einen Kriminalfall ein, der seine Fortsetzung Jahre später findet. Der Amoklauf des Killers ist recht brutal, aber für einen Horror-Roman bräuchte es schon ein wenig mehr. Zwischen dem Prolog und den letzten 100 Seiten des Buches erzählt Ketchum akribisch und detailfreudig die Entwicklung der einzelnen Personen zwischen dem Ableben des zweiten Mordopfers, das Jahre im Koma lag, und dem finalen Gewaltausbruch bei Ray Pye. Es wird dabei nie wirklich langweilig, und durch den Prolog hat man auch ständig das Gefühl, es könnte ständig etwas Entscheidendes passieren, aber zuweilen fehlt es mir etwas an Sprachwitz und Originalität. Der Roman ist insgesamt solide und unterhaltsam erzählt, aber irgendwie nicht wirklich innovativ.
Immerhin wird die malerische Kleinstadt Sparta, im Lake District westlich von New York gelegen, als Synonym für die amerikanische Provinzialität hervorragend geschildert. Zur Happy Hour kommen immer die gleichen, abgehalfterten Typen zusammen. Zum Dorfklatsch gehört vor allem, dass Ed Anderson ein Verhältnis mit einer unter 20-Jährigen pflegt. Aber auch der Alkoholismus seines Ex-Kollegen Charlie Schilling prägt das Bild. Früher haben die beiden Cops noch Katzen aus Regenrinnen geholt, und dafür gesorgt, dass die Kinder unbeschadet zur Schule kommen. Nun nagt der unaufgeklärte Mord an ihnen, Ed quittiert resigniert den Dienst, Charlie macht weiter und sucht Trost im Alkohol.
Prägend für die Geschichte ist allerdings vor allem die Gestalt des jungen und durchgeknallten Ray Pye. Er dealt ein wenig, nutzt dabei seinen Kumpel Tommy aus, hat ständig wechselnde Mädchen im Bett, und wenn keine will, kommt Jennifer wieder zum Einsatz. Im Grunde eine armselige Existenz ohne Zukunft. Und um seine geringe Größe zu kaschieren trägt dieser Verlierer auch noch Stiefel, in die er zusammen gedrückte Bierdosen stopft, um größer zu wirken. Dazu passt perfekt, dass er im Motel seiner Eltern den großspurigen Titel Geschäftsführer trägt, aber als Mann für alle Fälle auch die verstopften Toiletten in den Zimmern wieder reinigen muss. All das ist durchaus unterhaltsam zu lesen – könnte allerdings einen Schuss mehr Originalität vertragen.
Dennoch hebt sich das Buch vom Durchschnitt ab, gehört zu den guten Kriminalromanen, weil es wirklich unterhaltsam und spannend ist. Bei den sehr guten allerdings in der untersten Punktebene. Eine bessere Gradzahl wäre drin gewesen, der Plot ist eigentlich vielversprechend. Aber dazu hätte es zwischendurch noch einiger Highlights bedurft, und das Finale hätte etwas mehr als die letzten 100 Seiten einnehmen dürfen. Insgesamt aber ein aus meiner Sicht durchaus empfehlenswertes Buch, nicht nur für Ketchum-Fans.
Jack Ketchum, Heyne
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