Winters Knochen

  • Liebeskind
  • Erschienen: Januar 2011
  • 4
  • New York: Little, Brown and Co., 2006, Titel: 'Winter´s bone', Seiten: 193, Originalsprache
  • München: Liebeskind, 2011, Seiten: 224, Übersetzt: Peter Torberg
Winters Knochen
Winters Knochen
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Jochen König
91°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2011

Wintertime winds blow cold this season

Laut Martin Compart ist Daniel Woodrell der "Poet des White Trash". Keine Einwände, denn dieser Vorgabe lässt sich mit dem vorliegenden Roman leicht folgen: Winters Knochen ist ein weiterer poetischer Meilenstein, der mit beiden Beinen fest in den Ozarks steht, mitten in der Welt des "White Trash", zwischen Menschen, die in altersschwachen Häusern am Rande des Existenzminimums (und darunter) leben, in Wohnwagen und noch mieseren Behausungen; aber auch auf großen Gehöften und Anwesen, wenn die gesellschaftliche Stellung innerhalb diverser Clans (verbunden mit erfolgreichen, aber höchst illegalen Geschäften) dies erlaubt.

Hier gelten eigene, eherne Regeln, wer sie bricht, kann froh sein, wenn er nur mit Schimpf und Schande behandelt, bzw. davongejagt wird. Da zählt auch die verwandtschaftliche Basis wenig, denn zumindest weitläufig verwandt ist in den Ozarks jeder mit jedem. All die Dollys, Miltons, Boshells und Bromonts und wie sie noch heißen mögen. "Das Gesetz" steht für die Justiz der Vereinigten Staaten, und die zählt nicht gar so viel in den Ozarks. Hier wo sich mehr oder minder begabte Crystal Meth-Produzenten und –Konsumenten ein munteres Stelldichein geben. In den Knast gewandert ist (fast) jeder schon einmal; entweder wegen Drogen-, oder Eigentumsdelikten, Körperverletzung bis hin zum Mord. Kann passieren. Das sitzt man aus. Die Familie wird notdürftig mitversorgt von den Anverwandten, und wenn man den Knast wieder verlässt, macht man da weiter, wo es vorher endete.

Jessup Dolly ist auf Bewährung draußen. Wenn er verurteilt wird, drohen ihm bis zu zehn Jahren Haft. Sollte das ein Grund sein, um die Bewährungsauflagen zu verletzen und zu verschwinden? Genau das befürchtet "Das Gesetz" in Gestalt von Deputy Baskin und begibt sich zum Haus der Dollys, um die vier verbliebenen Familienmitglieder zu informieren, dass ihr Heim futsch ist, wenn Daddy nicht zur angesetzten Gerichtsverhandlung erscheint. Denn der armselige Besitz war die Einlage für die gestellte Kaution. Ree Dolly, der sechzehnjährigen Tochter Jessups, bleibt eine Woche, um ihren Vater zu finden. In welchem Zustand auch immer.

Von ihrer Mutter, deren Verstand sich in ein buntes Nirwana verabschiedet hat, ist keine Hilfe zu erwarten, und die beiden Brüder Sonny und Harold sind noch zu klein, um Ree ernsthaft beistehen zu können. Also schmeißt sie nicht nur Haushalt und Erziehung, sondern ist bei der Suche ganz allein auf sich gestellt. Zumindest zu Beginn, denn auch die weitere Verwandtschaft steht ihr vorerst nicht bei. Ein Grund könnte sein, dass Jessup möglicherweise den Codex gebrochen und Verrat an der Sippe begangen hat, und somit nie wieder vor Gericht erscheinen wird. Ree bereitet sich auf das Schlimmste vor. Und bekommt zumindest brummigen Rückhalt von ihrem finsteren Onkel Teardrop sowie Unterstützung von ihrer besten Freundin Gail, die sich allerdings auch noch um Sohn Ned und den eher zwangsweise akzeptierten als geliebten Kindsvater und damit Ehemann Floyd kümmern muss.

Winters Knochen ist ein Country Noir von atemberaubender Klarheit. Wie ein tiefer Atemzug in klirrender Kälte, irgendwo in sternenklarer Nacht, weit abseits der Zivilisation. Der am hellsten leuchtende Stern in tiefer Dunkelheit heißt Ree Dolly. Eine der faszinierendsten Hauptfiguren der jüngeren Literaturgeschichte. Denn Daniel Woodrell gelingt das Kunststück dieses sechzehnjährige Mädchen mit Verantwortung und Tatkraft, gepaart mit einer gehörigen Portion Halsstarrigkeit, auszustatten, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben. Ree ist ein Produkt ihrer Umgebung und doch viel mehr. Ihre natürliche Intelligenz und Ausstrahlung beeindruckt nicht nur den Schulbusfahrer, sie nötigt selbst denen Respekt ab, die Ree misshandeln, um sie von ihrem Ziel abzubringen, den Vater zu finden. Und damit die drohende Obdachlosigkeit von ihren engsten Familienangehörigen abzuwenden. Die Szenen, in denen Ree ihre kleinen Brüder darauf drillt der feindlichen Welt Paroli bieten zu können, sowie ihre verzweifelten Versuche dem entschwindenden Verstand der Mutter noch ein winziges Funkeln zu entlocken, sind Literatur, die eindrücklicher kaum sein kann.

Woodrell vermeidet, selbst in der rigoros und knallhart geregelten Welt der Ozarks, jede Schwarzweiß-Zeichnung. Ree geht es um das Wohl der Familie, im Hinterkopf hat sie aber sehr wohl ihren Absprung (Richtung Army) aus der dumpf brütenden Welt des scheinbar vorbestimmten Schicksals. Ein unbegabterer Autor hätte aus Winters Knochen eine simple Rachegeschichte gemacht. Doch selbst, nachdem man ihr, im Wortsinn, die Scheiße aus dem Leib geprügelt hat, stellt Ree atavistische Rachegelüste ihrem gewählten Ziel hinten an. Das verschafft ihr Respekt selbst von Menschen, die sie nicht einmal ansatzweise verstehen. Ree ist die Hoffnung, dass selbst in finstersten Zeiten und Gegenden Menschlichkeit sich ihren Weg bahnen kann. Doch Woodrell verklärt diese Hoffnung nicht, denn sie ist mit viel Arbeit, Entbehrungen und vor allem Schmerz verbunden. Doch es gibt sie, und das zeigt nicht nur Ree, sondern auch Gail, Rees Schulfreundin, die durch ihre Begegnung mit Ree die vorsichtige Emanzipation wagt. Wobei ihre Probleme mit Zwangsehemann Floyd, der immer noch seine verflossene große Liebe beehrt, eher kleiner Natur sind, gemessen an dem Grabenkampf, der zwischen machtbeflissenen Clans mitten im Crystal Meth-Paradies tobt.

Winters Knochen zeigt ein bröckelndes Gebilde männlicher Dominanz. Frauen leiden unter den wie in Stein gemeißelten Regeln, die wie so oft keinen anderen Sinn haben, als einen patriarchalischen Status Quo zu bewahren, mag er so erbärmlich sein wie nur möglich. Die klugen Frauen versuchen ihn zu überwinden, die starken setzen ihn durch. Mit dem schlechten Gewissen, dass etwas total aus dem Ruder läuft.

Es ist nur konsequent, dass die Hoffnung weiblich ist, während die scheinbar so starken Männer sich im Ausleben sterbender Rituale peu a peu auflösen. Wobei das Buch keinen Zweifel daran lässt, dass die Hoffnung nur eine milde und in erster Linie individuelle ist. Sie liegt im Ausbruch und nicht in der Änderung herrschender wirtschaftlicher und krimineller Verhältnisse.

Und so bleibt Winters Knochen eine Bestandsaufnahme der Finsternis, in deren Mittelpunkt allerdings ein heller Lichtstreif ist. Das erste Meisterwerk des noch jungen Jahres.

PS.: Man sollte Daniel Woodrell aber nicht auf reine "White Trash Poesie" reduzieren. Er ist thematisch vielfältiger. Bereits seine ersten Romane, die St. Bruno-Trilogie, die in den Bayous spielt, macht sich gut neben den hervorragenden Dave Robicheaux-Büchern James Lee Burkes. Nicht zu vergessen den Bürgerkriegsroman Zum Leben verdammt (Woe To live On), den Ang Lee ganz ansprechend, aber wie üblich etwas zu lang, unter dem Titel "Ride With The Devil" verfilmte.

Winters Knochen

Daniel Woodrell, Liebeskind

Winters Knochen

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