Briefe an einen Blinden
- Manhattan
- Erschienen: Januar 2011
- 4
- London: Quercus, 2008, Titel: 'Anarchy and old dogs', Seiten: 258, Originalsprache
- München: Manhattan, 2011, Seiten: 320, Übersetzt: Thomas Mohr
Farbenfroher Gegenentwurf zum Krimi-Mainstream
Dr. Siri Paiboun hat sein halbes Leben als Feldarzt für die Ziele der Kommunistischen Partei und ein freies Laos gekämpft, in Dschungelcamps Widerstandskämpfer zusammengeflickt und Sanitätspersonal ausgebildet. Als die Kommunisten 1975 schließlich die Macht übernehmen, freut sich der Doktor auf einen ruhigen Lebensabend in der Hauptstadt Vientiane. Doch der soll ihm so schnell nicht vergönnt sein. Stattdessen wird er zum ersten und einzigen staatlichen Leichenbeschauer ernannt; eine `Ehre`, für die er sich nur mäßig erwärmen kann. Trotzdem stellt er sich zusammen mit dem an Down-Syndrom leidenden Pathologie-Assistenten Geung und seiner Assistentin Dtui widerwillig seiner neuen Aufgabe.
Gerichtsmedizin mal anders
Wer beim Wort `Gerichtsmedizin` unwillkürlich an Patricia Cornwell oder CSI denkt, könnte in diesem Fall kaum weiter daneben liegen. An ausgefeilte forensische Ermittlungen ist nicht zu denken. Allen voran, weil Dr. Siri keinerlei Erfahrungen auf dem Gebiet der Pathologie hat. Abgesehen davon zwingen ihn die mehr als einfachen Umstände, eher an den kleinen Problemen des Alltag zu arbeiten. Um die für einfachste Tests notwendigen Chemikalien muss er eine örtliche Chemielehrerin bitten und gleich noch ein Holzgerüst bauen, mit dem man zur Not auch zwei Leichen im Kühlschacht lagern kann. Dennoch kann sich der staatliche Leichenbeschauer nicht über zu viel Arbeit beschweren, denn Verbrechen wurden durch ein staatliches Dekret abgeschafft.
Als eines Tages ein Blinder eingeliefert wird, der vor der Hauptpost von einem chinesischen Laster überfahren wurde, wird Dr. Siris Neugier geweckt. Bei der Handvoll Kraftfahrzeuge auf laotischen Straßen sind Verkehrsunfälle nicht gerade an der Tagesordnung. Als bei dem Toten dann noch eine chiffrierte Liste gefunden wird, die auf einen geplanten Putschversuch hindeutet, weckt das nicht nur Dr. Siris Interesse, sondern auch das seines alten Parteigenossen Civilai. Gemeinsam begeben sie sich nach Pakxe, in die Nähe der thailändischen Grenze, wo die Fäden der geplanten Verschwörung zusammenzulaufen scheinen. Mit im Gepäck hat Siri auch den Geist eines Schamanen, der sich in Siris Körper breit gemacht hat und der es ihm ermöglicht, über bildgewaltige Träume Nachrichten aus der Geisterwelt zu empfangen.
Man misst seinen Erfolg nicht daran, ob man die Welt verändert hat, sondern an dem, was man in seinem unmittelbaren Umfeld hat bewirken können.
An diesem Punkt teilt sich die Geschichte in verschiedene, einander nur lose beeinflussende, Erzählstränge. Siris Assistentin Dtui und sein Vertrauter Phosy stellen auf eigene Faust Ermittlungen in einem Flüchtlingslager an, während Civilai, ganz Parteisoldat, sich zurückzieht, um unauffällig Erkundigungen über den geplanten Staatsstreich einzuholen. Dr. Siri hat sich derweil schon eines anderen Falles angenommen und versucht, den mysteriösen Tod eines armen Fischerjungens aufzuklären. Ein Gegensatz, der ganz Siris Wesen entspricht, der sich auch angesichts eines drohenden politischen Umsturzes eher dem kleinem Mann als der großen Sache verpflichtet fühlt.
Beten? Wofür soll man in einem Land ohne Religion und ohne Geld schon beten?
Hier spielt das Buch seine großen Stärken aus. Colin Cotterill verwebt geschickt die Geschichte und die Folklore der Region mit der Biographie des Doktors, der immer wieder Abstecher in seine Vergangenheit macht. Land und Leute werden so humorvoll, bildhaft und farbenfroh dargestellt, dass es als Leser schwer schwerfällt, sich nicht von dem Reiz anstecken zu lassen, den die Region offenbar auf den Autor ausübt. Auf bildliche Gewalt wird fast vollständig verzichtet; auf Schießereien, Explosionen etc. wartet der Leser vergebens. Dass das Ganze nicht ins Kitschige abrutscht, dafür sorgt Cotterill mit seinem klaren, pointiertem Stil, sowie mit seinen ausgewogenen Figuren. Kaum jemand ist nur das, als was er auf den ersten Blick erscheint. Es schimmert eine gehörige Portion Verzweiflung und Wehmut durch die lebensfrohen Fassaden.
Tipps aus dem Jenseits
Dem ein oder anderen Leser wird sicher aufstoßen, dass Cotterill bei der Entwicklung seines Plots ein wenig trickst. Stellenweise wirkt die Handlung deutlich konstruiert, und wenn sie in einer Sackgasse zu enden scheint, bedarf es des öfteren übersinnlicher Tipps aus dem Jenseits, um Siri wieder auf Kurs zu bringen. Auf der anderen Seite bringt dieser Diskurs mit der Geisterwelt dem Buch eine Ebene, die man in den meisten Krimis wohl nicht finden wird.
Briefe an einen Blinden ist ein tolles Buch, dass vor allem durch seinen menschlichen Humor und die schön gezeichneten Charaktere überzeugt. Ein gelungener und absolut lesenswerter Gegenentwurf zum Krimi-Mainstream.
Colin Cotterill, Manhattan
Deine Meinung zu »Briefe an einen Blinden«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!