Der stumme Zwilling
- Berlin Verlag
- Erschienen: Januar 2011
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- Berlin: Berlin Verlag, 2011, Seiten: 416, Übersetzt: Werner Löcher-Lawrence
Biedere Soiree
Neo Noir ist ein Begriff aus der Filmbranche, der gerne jenem Kino angeheftet wird, das sich an der klassischen, düsteren Bebilderung aus den 40igern, 50igern orientiert. Etwa Point Black mit Lee Marvin oder Vertigo von Alfred Hitchcock. Selbst die Dirty-Harry-Reihe wird von manchem dazu gezählt. Um es gleich vorneweg zu sagen: Der stumme Zwilling hat damit überhaupt nichts zu tun, auch wenn er vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs spielt und der Autor sich bemüht, eine Geschichte der klaustrophobische Enge aus Misstrauen, Angst vor Verfolgung und biederem Spitzeltum zu entwerfen.
Da gibt es die junge Zuzka, den Dr. Anton Beer, die Haushälterin Vesalius, Lieschen und ihren trinkenden Vater, da geschehen gleich vier Morde im Umkreis eines Wiener Mietshauses und dringen merkwürdige Geräusche aus dem Keller in die Wohnungen. Doch die Handlung entspinnt sich so betulich, dass man zu Anfang noch hofft, man befände sich in einem blassen Remake von Arthur Schnitzlers Traumnovelle.
Dann jedoch muss man mit zunehmender Langweile sich fragen, was verspricht der Klappentext da: ein Kabinett der Sonderlinge, angesichts eines Arztes, der seinen Freud kennt und sich vom Mysterium eines ausgebluteten Hundes heraus gefordert fühlt? Vyleta legt Fährten aus, die in die Irre führen sollen, so dass der eigentliche Kern der Geschichte lange Zeit verborgen bleibt. Vorausgesetzt man dringt als Leser zu ihm vor und hat angesichts der schwülstigen Sprache nicht vorher aufgegeben.
Als sich die Tür öffnete, hatte er noch mit dem Hosenlatz zu tun. Er trug kein Hemd und hatte die Hosenträger über ein baumwollenes Unterhemd gezogen, auf dem oben zwischen den Brustmuskeln ein kalter Schweißschatten lag. Er war barfuss und stand o-beinig auf den Außenseiten der Füße, um den Kontakt mit den kalten Dielen zu minimieren. Seine Zehennägel waren ungepflegt und schmutzig.
Noch Fragen? Also wer sich diesen Mann nicht vorzustellen vermag, dem kann nicht geholfen werden. Es ist genau dieser Reichtum an Ausleuchtung von Szenerie wie Akteuren, der die Geschichte totschlägt. Die Überfrachtung führt dazu, dass Spannung, gar das Empfinden von Angst nicht aufkommen will.
Wenn der Verlag dann Vyleta noch mit Paul Auster vergleicht, fragt man sich, welches Verwirrspiel, auf dessen Klaviatur Auster so meisterhaft zu spielen imstande ist, Vyleta heraufzubeschwören versucht. Nazis, Euthanasie fallen dem Wiener Mief zu Grunde. Dass Oktober 1939 ist, die Welt in den Abgrund stiert, die Deutschen wieder einmal der Meinung sind, sie müssten Krieg führen, wird zur Randnotiz Wiener Privatismen. Der beabsichtigte Alptraum schleicht eher umher, als dass er einem den Schlaf raubt.
Das erste Opfer ist ein Mann, zweiundzwanzig Jahre, Mitglied der SS, das zweite Opfer Mitglied der Arbeitsfront, das dritte Opfer eine Frau, erwürgt und missbraucht in einem Fabrikhinterhof aufgefunden, das vierte Opfer Student und Mitglied der Burschenschaft Teutonia. Eine bunte Palette. Ein Serienmörder geht um, während Zuzka Briefe an ihre tote Schwester schreibt, Dr. Beer seine Homosexualität versteckt, während das heikle Thema der Ermordung von körperlich und geistig behinderten Menschen, von Zwangsterilisation sich allmählich enthüllt.
Das Spiegelbild des heraufziehenden Grauens im Dritten Reich soll sich anhand von Einzelschicksalen manifestieren.
In der Nachbemerkung schreibt der Autor:
Dabei ging es mir mehr darum, diesen Menschen, diesen "gewöhnlichen Österreichern", die ich ins Zentrum meines Romans gestellt habe, gerecht zu werden als den genauen historischen Details.
Das ist Vyleta gelungen. Wie unter dickem Staub ruhen sie in sich. Trotz aller Wortkunst sind sie dem Museum der Geschichte und dem guten Willen entsprungen. Wir sehen ihnen bei ihrem Treiben zu, aber sie berühren uns nicht.
Dan Vyleta, Berlin Verlag
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