Das Fahrrad des Leonardo da Vinci
- Eisbär
- Erschienen: Januar 1997
- 1
- Barcelona: Thassàlia, 1996, Titel: 'La bicicleta de Leonardo', Seiten: 363, Originalsprache
- Berlin: Eisbär, 1997, Seiten: 239, Übersetzt: Jürgen Alberts
- Berlin: Aufbau, 2002, Seiten: 365, Übersetzt: Jürgen Alberts
Taibos Fantasie ist fast grenzenlos
Dieser Roman besteht aus vier verschiedenen Handlungsebenen, die zunächst parallel verlaufen und sich im Weiteren einander annähern. Auf welche Weise das geschieht, wird hier natürlich nicht verraten.
- Die Geschichte des José Daniel Fierro ist vordergründig die Haupterzählung. Sie spielt in Mexiko City in der Gegenwart.
Fierro, ein Schriftsteller, feiert seinen 53. Geburtstag zu Hause. Er ist durch ein Gipsbein (Knöchelbruch nach Treppensturz) in seinem Aktionsradius behindert. Seit 3 Monaten kommt er mit seinem Roman nicht weiter, er steckt seit längerem in einer Art midlifecrisis. Inspiration erhält er ausschließlich im Fernsehen bei Übertragungen von Frauen-Basketballspielen aus der amerikanischen College-Liga.
Er spürt eine gewisse sexuelle Erregung beim Beobachten dieser wilden Mädchen, besonders magisch angezogen fühlt er sich von der blonden Karen Turner von den Texas Long Horns.
Sein Verleger setzt ihn unter Druck, endlich den Roman vorzulegen: - Die zweite Handlung spielt im Barcelona der 20er-Jahre.
Es ist die Zeit der blutigen Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern, Gewerkschaften, kritischen Journalisten und dem Unternehmerverband, dessen Schlägertruppen und der Polizei. Die freie Meinungsäußerung ist massiv eingeschränkt.
Es ist die Geschichte von Antonio Amador, genannt der "Floh", dem kleinwüchsigen, unnachgiebigen, fintenreichen, gefürchteten anarchistischen Journalisten, der seine system- und regimekritischen Artikel nur unter Umwegen und Lebensgefahr veröffentlichen kann, gesundheitlich beeinträchtigt durch eine offene Lungentuberkulose.
Und von Angel del Hierro, dem jungen Anarchisten, Einzelkämpfer, Verwandlungskünstler, berühmt - berüchtigt durch mehrere Attentate, wie das auf den Polizeichef von Barcelona. Er ist außerdem der leibliche Großvater von José Daniel Fierro. - Die dritte Geschichte spielt im Vietnamkrieg, in Saigon, wenige Tage vor dem Fall der Stadt im April 1975.
CIA - Agent Jerry, ein eiskalter Killer, reißt sich noch schnell eine größere Menge Heroin unter den Nagel und bringt sie mit Hilfe eines ehemals feindlichen bulgarischen Agenten außer Landes. Dann verlässt er Saigon mit dem letzten Ami - Hubschrauber.
15 Jahre später, er lebt nun in New York, meldet sich der Bulgare, bereit, den Erlös für das Heroin anteilsmäßig auszubezahlen, allerdings unter einer höchst ungewöhnlichen Bedingung... - Die vierte Handlung betrifft Leonardo da Vinci. Es ist seine Zeit in Florenz ab 1503, nachdem er zuvor drei Jahre als Militäringenieur in Diensten des Cesare Borgia gestanden hat. ( Diese Borgia - Zeit da Vincis ist übrigens sehr gut beschrieben bei Manuel Vasquez Montalbán - "Kaiser oder nichts")
Er arbeitet unter anderem an Entwürfen für ein größeres Wandbild, entwirft Festungsanlagen, studiert den Vogelflug, skizziert ein Fahrrad, 400 Jahre, bevor es tatsächlich erfunden wird und beschäftigt sich intensiv mit der Möglichkeit, gesunkene Schiffe zu heben oder sich unter Wasser zu bewegen. Besaß er Hinweise auf ein Objekt, das sich auf dem Meeresgrund versteckt hielt...?
"Und wovon handelt dein verdammtes Buch?"
"Von Basketballerinnen, du Arsch. Wovon sonst könnte ein Buch aus Mexiko handeln? Von Basketballspielerinnen und meinem Opa. Der war einst Terrorist in Barcelona. In Zeiten wie heute bekennt man sich wieder zu so was..."
Da passiert folgendes: Karen und ihre Mitspielerin Jackie O´Brien werden entführt, Jackie getötet, Karen wird illegal eine Niere entfernt, offenbar zu Transplantationszwecken.
José bricht seine Zelte in Mexiko ab und macht sich auf die Suche nach Karen, er findet sie in einem Krankenhaus in Ciudad Juarez.
Gemeinsam recherchieren sie, machen die Entführer ausfindig und möchten an die Hintermänner herankommen. Gleichzeitig entwickelt sich eine Liebesbeziehung zwischen den beiden.
Ich habe mich mit dem Anfang dieses Buches etwas schwergetan. Der rasche Wechsel der Schauplätze wirkt zunächst sperrig, die kurz aufeinanderfolgenden unterschiedlichen Erzählstile und -perspektiven stehen etwas vordergründig da und verweisen ein bisschen zu stark auf die technischen Möglichkeiten des Autors.
Aber nach etwa 60 Seiten hat er mich überzeugt: Dort, wo CIA - Agent Jerry in den letzten Tagen von Saigon über Leichen geht und den letzten Hubschrauber nach Amerika erreicht. Eine sehr intensive und authentisch wirkende Szene mit dem ersten literarischen Höhepunkt - der Moment, wo Taibo quasi aus dem Handgelenk die gezielte Desinformation der Bevölkerung durch Medien - wie hier im Vietnamkrieg - bloßstellt: Ein Foto geht um die Welt, wo Jerry angesichts der heranrückenden Nordvietnamesen den letzten Hubschrauber besteigt, eine Pistole im Gürtel, eine alte vietnamesische Frau zu seiner Rechten, einen kleinen Hund in seiner Linken - ein Heldendenkmal.
Was aber niemand weiß, ist, dass er die Alte umbringen möchte, um ihren Platz im Helikopter zu bekommen, und den Hund wirft er später ins Meer. Dieses Thema der so genannten "medialen Kriegsführung" ist gerade heute wieder - siehe Irak - höchst aktuell.
Taibo ist ein außergewöhnlicher, wahrlich "phantastischer" Schriftsteller, seine Fantasie ist fast grenzenlos. Ich stelle ihn mir so vor, wie er den Journalisten Amador beschreibt:
"Angeregt von der Kraft seiner Vorstellungen, hastete Amador wieder an die Schreibmaschine und tippte ... die Schreibmaschine glühte bereits, als er innehielt. Amador selbst schien wie elektrisiert."
Er erzählt und erzählt, seine Formulierungen sind intelligent, witzig, tiefgehend, satirisch, zutreffend. Manchmal verliert er sich etwas in seiner Fantasie und erinnert mich ein wenig an Jean Paul, dem die Nebenstrassen der Handlung oft viel wichtiger waren als die Hauptstrasse. Aber das ist nicht wirklich schlimm, Taibo gelingt es stets, die Zügel in der Hand zu halten.
Der Hauptteil des Buches ist für mich die Barcelona-Geschichte um Amador und Angel Hierro. Hier zeigt sich der Autor von seiner stärksten, am meisten überzeugenden Seite. Hier spürt man, wo Taibo politisch und philosophisch steht, diese Dinge sind ihm ein echtes Anliegen.
Gelegentlich erwähnt er Fellini, und tatsächlich gelingen ihm mehrmals Fellinische Szenen und Bilder, wie etwa dort, wo Amador und Hierro mit Hilfe des Magiers Buonaventura aus dem Gefangenentransportwagen entkommen können.
José Daniel Fierro, für mich in gewissem Sinne - auch äußerlich - ein Selbstportrait des Autors, bewundert den Journalisten Amador:
"...seine Artikel, die ich wie unter Zwang las, nahmen mich in Beschlag ... Amador riskierte seine Haut bei jedem Artikel aufs neue, es schienen der Zorn, die Besessenheit, der gesunde Wahnsinn des spanischen Anarchismus zu Anfang des Jahrhunderts durch ... dieser Amador zu sein war einer meiner Träume gewesen. Und seine Literatur des Augenblicks, sein Schreiben, das manchmal geschraubt wirkte oder zu simpel, doch immer anteilnehmend und erregend, machte mich nervös, denn es schloss die Fragen meiner Literatur ein."
Das genau ist der Punkt: Taibo ist am Besten dort, wo er "Literatur des Augenblicks" schreibt, wo er von Satz zu Satz fliegt. Dort erreicht er in seinem "Magischen Realismus" eine Leichtigkeit fast wie Bulgakow.
Doch wo er dann die Geschichten zu Ende bringen will, die Handlungsstränge miteinander verknüpft, entsteht eine merkwürdige Leere, Banalität, die Lösungen wirken wie aufgesetzt, wie Fremdkörper. Das Phantastische, das Magische verflüchtigt sich ein wenig. Und das ist schade. Vielleicht möchte Taibo einfach viel lieber ohne Ende weitererzählen.
Aber trotz dieser kleinen Unzulänglichkeiten hat mir dieses Buch großen Spaß gemacht, ich habe gar nicht gemerkt, dass die eigentliche "Krimi-Story" eher farblos ist und deren Ende mich nicht sonderlich interessiert.
Für mich ist dieses Buch mit Sicherheit der Anfang einer längeren literarischen Freundschaft.
Paco Ignacio Taibo II, Eisbär
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