Vier Hände
- Schwarze Risse, Rote Straße
- Erschienen: Januar 1996
- 2
- Mexiko: Ediciones B, 1990, Titel: 'Cuatro Manos', Originalsprache
- Berlin: Schwarze Risse, Rote Straße, 1996, Seiten: 413, Übersetzt: Annette von Schönfeld
- Zürich: Unionsverlag, 2004, Seiten: 445
- Berlin: Schwarze Risse, Rote Straße, 1999, Seiten: 413
Anspruchsvolle Trivialliteratur - ohne trivial zu sein
Der in Spanien geborene und bereits als Kind nach Mexiko emigrierte Autor Paco Ignacio Taibo II (Nr. I war sein Vater) behauptet von sich, Kriminalliteratur zu schreiben. Doch so leicht ist er nicht einzuordnen, jedenfalls nicht mit diesem Buch. Ich denke, er entzieht sich auch bewusst einer "Einordnung", vielleicht aus einer grundsätzlichen Protesthaltung nicht nur gegenüber Regierungen, sondern auch gegenüber der vorherrschenden (mexikanischen) Literaturkritik.
Daher ist eine ausreichende und verständliche Inhaltsangabe eigentlich nicht möglich. Folgendes geschieht auf 433 Seiten, in willkürlicher Reihenfolge:
- Die Journalisten Greg und Julio schreiben seit langem gemeinsam, also "vierhändig", ihr letzter Plan ist eine Biographie des sandinistischen Kommandanten Carlos Machado.
- Alex ist CIA-Agent und Leiter des SD ("shit departement"), ein Meister gezielter Desinformationen, der anscheinend alle Fäden in seiner Hand hält. Seine Operation "Schneewittchentraum" instrumentalisiert Menschen, geht über Leichen und hat nur ein Ziel: Jemanden Bestimmten aus dem Weg zu räumen.
- Stan Laurel wird Zeuge des Mordes an Pancho Villa.
- Leo Trotzki schreibt einen Krimi.
- Houdini, der Entfesselungskünstler, geht zum Psychiater.
- Die Geschichte von Max, dem Photographen, und dem Club der Margeriten.
- Die wilde Biographie des geheimnisvollen Bulgaren Stojan Wasilew.
- Die vielen abgelehnten Dissertationsvorhaben der Elena Jordán.
- Die meist unerwarteten Auftritte des allzeit verlässlichen Fälschers Saturnino Longoria.
- Sandokan erlebt Abenteuer, aus der Sicht eines Gefängnisinsassen.
- Marcelino der Zwerg schreibt die Legende des Drogenbosses Ronaldo M. Limas, der seinerseits kräftig in der Geschichte mitmischt.
- Verschiedene Szenen, Lageberichte und historische Abhandlungen von unterschiedlichen Revolutionen und Freiheitskriegen des letzten Jahrhunderts auf dieser Erde, etc., etc.
Daraus kann man einen Roman schreiben? Taibo kann, und wie er das kann! Man muss nur Geduld haben, denn wie so oft beginnt bei ihm alles scheinbar ohne Zusammenhang. Eine Menge an Darstellern, unterschiedlichen Geschichten, die einander ständig abwechseln und unterbrechen, permanente Szenenwechsel, Ortswechsel, Zeitsprünge. All das sind bewusste Stilmittel von Taibo, sein Credo ist es, "mit der Geschwindigkeit des Kinos und des Fernsehens zu konkurrieren, die Literatur mit literarischen Mitteln zu verteidigen", die Leute von den Bildschirmen wegzuholen.
Erst nach längerer Zeit erkennt man erste Zusammenhänge, die manches logisch erscheinen lassen (auch wenn gelegentlich einiges willkürlich konstruiert erscheint).
Doch leicht zu lesen ist Taibo beileibe nicht. Obwohl er eigentlich anspruchsvolle Trivialliteratur schreibt. Ohne trivial zu sein. Er liebt den Abenteuerroman, nicht umsonst huldigt er Emilio Salgari, dem "italienischen Karl May", dem Schöpfer des Sandokan. Doch das Triviale ist bei ihm nie billig, sondern aufgewertet durch Integration in seinen Roman, es ist schließlich auch die Literatur der "einfachen Menschen", denen sich Taibo verbunden fühlt.
Da verwundert es nicht, dass der eigentliche Held in der Geschichte, den ich hier nicht verraten werde, tatsächlich wie eine Figur aus einer Abenteuergeschichte agiert, er bezeichnet sich selbst als "Scarlet Pimpernel". "Aber Vorsicht, Freunde!" würde wiedereinmal Marcel Reich-Ranicki sagen, in Wahrheit geht es Taibo auch - wie so oft - um etwas ganz anderes.
Er schreibt eine "fiktionale Chronik der fortlaufenden Opposition", einige seiner wichtigen Protagonisten sind erneut Journalisten. "Der Journalismus ist die beste Literatur", "schreibend Partei ergreifen", das ist ihr Wahlspruch, und auch der von Taibo. Er macht kein Hehl aus seiner politischen, linksgerichteten Haltung, seiner Sympathie für die Unterdrückten und Ausgebeuteten aller Länder und aller Zeiten. Mit ausreichend trotzigem Zorn und unzureichend unterdrückter Melancholie. Seine Bücher entwickeln sich zu einer Geschichte der globalen Revolution.
Auf welcher Seite er steht, merkt man immer wieder daran, welche Figuren ihm am besten gelingen. Hier ist es für mich die sehr intensive Präsenz des Longoria und des Wasilew.
Taibos Buch Das Fahrrad des Leonardo da Vinci ist für mich etwas freier, fast poetischer, lockerer geschrieben, "Vier Hände" wirkt gelegentlich überambitioniert, mit einzelnen Längen, eine Spur zu sehr bemüht, weniger frei als Leonardo. Aber eindeutig mit dem besseren Schluss.
Und trotzdem: Hut ab vor Paco Ignacio Taibo II, diesem mexikanischen Freigeist mit spanischen Wurzeln, seiner ungezügelten Phantasie, seiner ethischen Konsequenz und seinem großen historischen Wissen, der sich um keinen Preis gewohnten literarischen Kategorien anpassen möchte, auch wenn er nach eigener Aussage "Kriminalromane" schreibt.
Paco Ignacio Taibo II, Schwarze Risse, Rote Straße
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