Die toten Mädchen von Villette
- Suhrkamp
- Erschienen: Januar 2010
- 0
- Stockholm: Alfabeta, 2009, Titel: 'Flickorna i Villette', Seiten: 349, Originalsprache
- Berlin: Suhrkamp, 2010, Seiten: 401, Übersetzt: Angelika Gundlach
Wir wandeln auf Poirots Spuren
Dass eine Schwedin einen fiktiven Ort in Belgien als Schauplatz ihrer Kriminalromane wählt, ist nicht gerade alltäglich, erklärt sich aber aus der Tatsache, dass die Autorin als Korrespondentin einer schwedischen Tageszeitung lange Zeit in Belgien gelebt und gearbeitet hat. Villette, das kleine nicht-existente Städtchen an der Meuse ist der Heimatort von Untersuchungsrichterin Martine Poirot, Hedströms Serienheldin mit dem symbolhaften Nachnamen. Für ihren ersten Auftritt in Lärarinnan i Villette (der in Deutsch noch nicht vorliegt) wurde die Autorin in 2008 mit dem schwedischen Debütanten-Preis ausgezeichnet. Der hier vorliegende zweite Teil Die toten Mädchen von Villette ist nominiert für den besten schwedischen Krimi in 2009. Band 3 Die Gruben von Villette erscheint auf Deutsch im Januar 2011.
Die toten Mädchen von Villette steht in der Tradition des klassischen englischen Kriminalromans à la Christie, Sayers oder Marsh, die Hedström auch zu ihren Lieblingsautorinnen zählt. Weniger klassisch ist Belgien als Handlungsort für Kriminalgeschichten. Selbst Belgiens berühmter Georges Simenon zog das benachbarte Frankreich vor. In Hedströms Augen hat aber gerade Belgien mit seiner bewegten Vergangenheit, seiner skandalträchtigen Gegenwart und seiner europäischen Zukunft seine Reize.
1994. In Villette sur Meuse wird das alljährliche Johannisfest gefeiert. In diesem Jahr ist der Festtagsumzug besonders prunkvoll, Musik und Tanz auf allen Plätzen, Menschenmassen schieben sich durch die verwinkelten Gassen, Journalisten aus aller Welt geben sich die Klinke in die Hand, denn Villette hat Großes vor, nämlich Kulturhauptstadt Europas zu werden. In all dem Trubel amüsieren sich drei Teenies aus einem Nachbardorf. Den letzten Bus verpasst, machen sie sich am späten Abend zu Fuß auf den Heimweg. Nur wenige Stunden später finden zwei Jugendliche die Leichen der drei Mädchen. Untersuchungsrichterin Martine Poirot, die an diesem Abend Bereitschaftsdienst hat, übernimmt den Fall, der schon am nächsten Tag beendet zu sein scheint. Der Neffe von Poirots Assistentin wird verhaftet, weil er die Mädchen nachweislich in seinem Auto mitgenommen hat, einen Umstand, den dieser auch nicht abstreitet. Eine schnelle Verhaftung kommt den Honoratioren der Stadt sehr gelegen, sind sie doch wegen des Wettbewerbs auf gute Publicity bedacht. Doch Poirot und ihr Team zweifeln an der Schuld des jungen Mannes. Ein Teamkollege glaubt, sich an einen zurückliegenden, ähnlich gelagerten Fall erinnern zu können. Die Ermittlungen werden ausgeweitet, sogar über die Landesgrenzen hinaus. Aus Deutschland, Frankreich und aus Belgiens Hauptstadt werden dann auch Treffer gemeldet. Es scheint ein Serienmörder am Werke zu sein.
Ingrid Hedström macht jetzt nicht den Fehler und klingt sich in die ausgefahrenen Schienen der Serienmörderjagd ein. Die Ermittlungen in diesem Fall laufen klassisch mit der gebotenen Routine weiter. Ein zweiter Handlungsstrang, der anfänglich nur zu erahnen war, bekommt größere Bedeutung. Es geht um die Vergangenheit von Martine Poirots Mutter Renée, die gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zusammen mit ihrer Freundin Simone Janssen in das deutsche Konzentrationslager "Ravensbrück" verbracht wurde. Da Martine viel zu sehr in ihre Arbeit eingebunden ist, übernimmt es ihr Bruder Philippe, die Geheimnisse ihrer Mutter zu lüften. Ausgehend von dem Mord an Simone Janssens Bruder Eric verfolgt Philippe die Spur durch die Vergangenheit und es ist keine Überraschung, dass beide Fälle miteinander verknüpft sind.
Ingrid Hedströms Roman, Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts geschrieben, spielt im Jahre 1994, aber es hätte genauso gut 1984 oder 1974 sein können. Ein Kriminalroman mit klassischem Aufbau ist nahezu zeitlos. Sehr angenehm, dass sich eine zeitgenössische Schriftstellerin nicht von der Hektik unserer Tage anstecken lässt. - keine allwissenden Computer, keine fiependen Handys, keine Alkoholsünder, keine Beziehungskisten – also langweilig? Nicht unbedingt! Ein wenig nostalgisch vielleicht. Zugegeben solche Ermittlungsprozeduren haben wir, wie könnte es anders sein, schon hundertmal gelesen, aber mal mit nicht-traumatisierten Personen auf Tätersuche zu gehen, ist – so komisch es klingen mag – eine Abwechslung.
Martine Poirot ist glücklich mit einem aus Schweden stammenden Historiker verheiratet. Dieser ist in seiner Rolle dezent zurückhaltend, lässt aber gerne seine Verbindungen spielen, wenn es gilt, einen historischen Sachverhalt aufzuklären. Martines Bruder Philippe, der - wie gesagt – einen Teil der Ermittlungen bestreitet, jobbt als Barmann und hat seine homosexuelle Orientierung erst in einer Ehe deutlich erfahren. Aus dieser Ehe ist die Tochter Catherine hervorgegangen, die zeitweise im Brennpunkt des Geschehens stehen wird. Wie schon ihre Familie, so ist auch Poirots Dienststelle – die zuarbeitenden Polizeikräfte, die Staatsanwälte und Richter - frei von irgendwelchen Selbstdarstellern und arbeitet sehr harmonisch zusammen. Belgiens Dauerkonflikt zwischen Flamen und Wallonen wird zwar thematisiert, spielt in Hedströms Geschichte keine wesentliche Rolle. Villette liegt irgendwo in Belgien und ist aber keiner der beiden Konfliktparteien zugeneigt. Man könnte durchaus von einem europäischen Ort sprechen, dessen multinationaler Charakter die Autorin durch die Namensgebung ihrer Figuren unterstreicht. Viel Harmonie verströmen dieser kleine Ort und seine Einwohner. Im Gegensatz dazu der Fall eines möglichen Serienmörders. Das lässt den Leser unwillkürlich an ein dunkles Kapitel aus Belgiens jüngster Vergangenheit denken: den Fall Dutroux, der dazu angetan war, ein ganzes Land in Verruf zu bringen. Hedströms Krimi enthebt sich aber der Aktualität durch seinen zeitlosen Charakter und einer Komplizenschaft durch sein grenzübergreifendes Personal.
Hier wird nichts schöngeredet, vertuscht oder verschleiert, aber auch nichts Pompöses implantiert wegen eines billigen Showeffektes. Solide, unaufgeregte Ermittlungsarbeit, bei der sich Indiz zu Indiz addiert und sich zu einem Gesamtbild verfestigt, kann eine spannende Angelegenheit sein, wie wir seit den Klassikern der Kriminalliteratur wissen. Fans dieser Gattung dürften sich bei Ingrid Hedström wohlfühlen.
Ingrid Hedström, Suhrkamp
Deine Meinung zu »Die toten Mädchen von Villette«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!