Der blaue Express
- Amonesta; Carl Krug
- Erschienen: Januar 1930
- 21
- London: Collins, 1928, Titel: 'The Mystery of the Blue Train', Seiten: 295, Originalsprache
- Wien; Leipzig: Amonesta; Carl Krug, 1930, Seiten: 270, Übersetzt: Ernst Simon
- Bern: Scherz, 1957, Seiten: 191, Übersetzt: Ernst Simon
- Bern; München; Wien: Scherz, 1977, Seiten: 189, Übersetzt: ?
- Genf: Edito-Service, 1983, Seiten: 206, Übersetzt: ?
- Bern; München; Wien: Scherz, 1993, Seiten: 197, Übersetzt: ?, Bemerkung: überarbeitete Fassung
- Bern; München; Wien: Scherz, 2000, Seiten: 288, Übersetzt: Gisbert Haefs
- Bern; München; Wien: Scherz, 2001, Seiten: 288, Übersetzt: Gisbert Haefs
- Frankfurt am Main: Fischer, 2004, Seiten: 288, Übersetzt: Gisbert Haefs
- Frankfurt am Main: Fischer, 2005, Seiten: 288, Übersetzt: Gisbert Haefs
- Frankfurt am Main: Fischer, 2009, Seiten: 396, Übersetzt: Gisbert Haefs
- Marburg: Verl. und Studio für Hörbuchproduktionen, 2003, Seiten: 7, Übersetzt: Martin Maria Schwarz, Bemerkung: ungekürzt
Agatha Christie lässt zum ersten mal im Zug morden
Der amerikanische Millionär Rufus van Arden hat sein Herz verschenkt. Und das dann auch gleich in doppelter Ausführung (in Form seiner Liebe und in Form des sagenhaften Rubins "Feuerherz") an seine Tochter Ruth, die selbst unsagbar unglücklich verheiratet ist mit Derek Kettering. Dieser ist ein kurz von dem Bankrott stehender Sohn eines alten englischen Landadelsgeschlechts, der sich lieber mit der Tänzerin Mirelle als mit seiner Gattin vergnügt. Ruth will auf Ansinnen ihres Vaters die Scheidung von Derek einreichen. Doch was ihr Vater nicht ahnt, Ruth ist immer noch hoffnungslos vernarrt in einen französischen Hochstapler, den Comte de la Roche. Sie begibt sich zusammen mit ihrer Zofe auf eine Reise von London über Paris mit dem "Blauen Express" nach Nizza.
Ebenfalls im Zug sitzt Katherine Grey, erst jüngst durch eine Erbschaft von der Hausbediensteten zur vermögenden jungen Dame aufgestiegen, die nun ihre entfernte Verwandtschaft besuchen will. Sie lernt Ruth Kettering kennen, die sie ins Vertrauen zieht und ihren Rat sucht. In der Nacht sieht sie, wie ein Mann in das Abteil von Ruth verschwindet. Am nächsten Morgen erfährt sie bei Ankunft in Nizza, dass die Millionärstochter ermordet und offenbar der unsagbar wertvolle Rubin "Feuerherz" aus ihrem Abteil gestohlen wurde. Ist es in diesem Zusammenhang nicht eine sonderbare Fügung des Schicksals, dass auch der Meisterdetektiv Hercule Poirot zufällig mit dem Blauen Express gereist ist?
Von der Presse seinerzeit als Comeback gefeiert
Der Roman datiert auf das Jahr 1928 und ist somit - obwohl es bereits ihr sechster Poirot-Roman war - als ein frühes Werk der Großmeisterin zu bezeichnen. Mit diesem Roman bewältigte Christie eine Reihe von persönlichen Schicksalen (Tod der Mutter, Scheidung, Verlust von Freunden) die an ihrer Schaffenskraft genagt hatten. Die wenigen Freunde, die ihr geblieben waren, würdigte sie mit ihrer Widmung zu diesem Roman: ihre Verlegerin und ihren Rauhaardackel Peter. Sie befand sich außerdem auch in finanziellen Nöten, weswegen sie einen gewissen Druck verspürt haben mag, ihrem Verlag ein neues Werk zu präsentieren. Den "Blauen Express" hat sie selbst im Nachhinein nicht wirklich gemocht, die Presse jedoch feierte ihr Comeback mit überschwänglichen Lobeshymnen.
Christie steigt in die Handlung ein mit dem geheimen Erwerb des kostbaren Juwels durch den amerikanischen Millionär. Allein durch die detaillierte Schilderung bleibt beim Leser der Eindruck hängen, dass es sich bei dem Mord nicht um eine schlichte Beziehungstat handeln kann. Der so offensichtlich zum Schuldigen gestempelte Derek Kettering ist also nichts weiter als eine falsche Fährte, die hier gelegt wird. Und in der Tat, Christie konnte ihre Leser schon besser in die Irre führen. Oder war es hinterher dann doch ihre Absicht, dass die Leser diese Variante als zu banal verwerfen und nicht weiter verfolgen sollten, bis Poirot in einem fulminanten Finale den unwiderlegbaren Beweis findet? Viele Alternativen bietet die Story nämlich nicht. Der Rahmen der handelnden Personen ist relativ eng und viel zu viele scheinen eindeutig der "guten" Seite zuzurechnen zu sein.
Für sich ein unterhaltsamer Roman, der mit den Meisterwerken Christies jedoch nicht mithalten kann.
Nach und nach wird der aufmerksame Leser einige Details bemerken, die zusammen genommen ziemlich bald nur noch eine Person für das Verbrechen in Frage kommen lassen. Verglichen zu ihren wahren Meisterwerken legt Christie die Spuren jedoch sehr offensichtlich. Auch hier fällt der Blaue Express gegenüber anderen Werken deutlich zurück. Meisterhaft einzig, wie Poirot die fehlenden Details kombinieren kann und die wahre Identität einiger Akteure ans Licht kommt. Geschickt auch, wie Christie dann kurz vor der Auflösung doch noch mal durch ein kleines Ablenkungsmanöver dem Leser die Einschätzung des Falls erschwert. So sichert sie sich den Triumph, ihren Lesern auch bei diesem Fall doch noch eine kleine Überraschung zu servieren.
Weiterhin muss dieser Roman zu einem Vergleich heran gezogen werden: der Vergleich mit dem "Mord im Orient-Express". Viele Parallelen sind hier zu sehen, jedoch kann Agatha Christie in diesem späteren Werk ("Murder on the Orient Express" erschien 1934) einige "Probleme" eleganter lösen. So präsentiert sie im Orient Express zunächst eigentlich niemanden, der ein unmittelbares Motiv für den Mord an einem recht harmlos wirkenden Geschäftsmann im Ruhestand haben könnte. Immerhin bietet sie einen großen Kreis von handelnden Figuren auf, die jede auf seine Art interessant sind und das ein oder andere Geheimnis verbergen. Wiederum kann auch hier keine einzelne Spur auf den oder die Täter weisen, jedoch fällt es hier auch noch einmal schwerer überhaupt einen Zusammenhang zu finden. Und während Poirots etatmäßiger Begleiter Captain Hastings im Orient-Express von charismatischen Monsieur Bouc vertreten wird, kann die doch eher blasse Miss Grey (selten war ein Name so passend gewählt) im blauen Express nicht so recht als Poirots Verbündete brillieren. Kurzum, das wesentliche Element in Christies Romanen, die detaillierte Charakterskizzierung, ist ihr im Orient-Express wesentlich besser geglückt als im Blauen Express.
Und noch etwas sei angemerkt: Katherine Grey wird eingeführt als Zofe einer alten Dame aus dem Dörfchen St. Mary Mead. Freunden der Kriminalliteratur ist dieses Kaff Musik in den Ohren. Im Jahr nach der Veröffentlichung des "Blauen Express" begann Christie mit ihrer Arbeit an "Mord im Pfarrhaus", was Auftakt ihrer zweiten Erfolgsserie werden sollte: Die Fälle der Miss Jane Marple. Schauplatz St. Mary Mead, wo offenbar mehrere wohlhabende und alleinstehende alte Dame wohnten. Übrigens, Jahre später fährt auch Miss Marple einmal mit einem Zug "16 Uhr 50 ab Paddington" und wird Zeugin eines Mordes (wenngleich dieser in einem überholenden Zug geschieht).
Genug der Vergleiche mit dem absoluten Highlights in der Schaffenskraft der Großmeisterin. Die Qualitäten des "Blauen Express" sollen hier auch nicht grundsätzlich bestritten werden. Auch hier handelt es sich um einen souverän und interessant geschriebenen Krimi, der für einige unterhaltsame Stunden sorgen kann. Von gesteigertem Interesse dürfte er allerdings nur für absolute Fans von Agatha Christie sein, da sie ihr Zugmotiv später wesentlich besser zu einer Story verarbeiten konnte.
Agatha Christie, Amonesta; Carl Krug
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