Eis

  • Bastei Lübbe
  • Erschienen: Januar 1985
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  • New York: Arbor House, 1983, Titel: 'Ice', Seiten: 317, Originalsprache
  • München: Droemer Knaur, 1985, Titel: 'Kalt bis ans Herz', Seiten: 314, Übersetzt: Christian Quatmann
  • Bergisch-Gladbach : Bastei Lübbe, 1997, Seiten: 378, Übersetzt: Christian Quatmann
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonNov 2010

Mord zieht Mord nach sich.

Was haben eine erfolgreiche Tänzerin und ein schmieriger Klein-Drogendealer gemeinsam? Diese Frage stellt sich den Beamten des 87. Reviers in der Großstadt Isola, als in diesen eiskalten Wintertagen beide mit derselben Waffe erschossen werden. Raub ist nicht das Motiv; die Morde wurden gezielt und mit hoher Effizienz begangen. Die Ermittlungen im Umfeld der Opfer laufen wie so oft ins Leere, doch Stephen Carella, Bert Kling und Arthur Brown bleiben mit der für sie typischen Hartnäckigkeit am Ball.

Während die Nachforschungen laufen, ordnet sich die Unterwelt neu. Der getötete Dealer hinterlässt ein geschäftliches Vakuum. Seine Lebensgefährtin würde gern den Kundenstamm übernehmen, doch das bizarre Gangsterpaar „Bruder Anthony“ Scalzo und „Fat Lady“ Emma Forbes hegen ähnliche Ambitionen. Dank Emmas Rasiermesser ist die erwähnte Gefährtin bald ohne Nase und auch sonst so zerlegt, dass sie keine Konkurrenz mehr darstellt: ein Verbrechen, das den eigentlichen Fall verkompliziert bzw. zunächst als ‚Kollateraltat’ nicht erkannt wird.

Der erste Täter bleibt nicht untätig und erschießt ein drittes Opfer. Inzwischen konnten Carella und seine Kollegen eine Spur aufnehmen: In der Handtasche der Tänzerin fanden sich Spuren von Kokain. Ist man einer Rauschgift-Gang auf die Schliche gekommen, weil dort ein interner Machtkampf ausgebrochen ist? Weiterhin zäh setzen sich die Ermittlungen fort, wobei sich allmählich ein Tatsachenbild ergibt, das alle bisherigen Annahmen ins Gegenteil verkehrt ...

Mörderische Missverständnisse

Das ‚gewöhnliche‘ Verbrechen wird praktisch nie durch Genialität oder wenigstens sorgfältige Planung geprägt, obwohl man uns dies in Romanen, Filmen und TV-Serien vorzugaukeln versucht, denn normaldumme Schurken sind nicht gerade unterhaltungstauglich. Ed McBain (1926-2005) hat dies einerseits ironisch konterkariert, indem er mit dem „Tauben“ ein kriminelles Superhirn mehrfach gegen die Beamten des 87. Reviers antreten (und scheitern) ließ, während er andererseits die Banalität des Bösen bewusst nicht veredelte, sondern ausdrücklich thematisierte.

McBains über ein halbes Jahrhundert fortgesetzte und mehr als 50 Bände umfassende Reihe um die Fälle des 87. Reviers war auch eine Chronik der modernen urbanen US-Gesellschaft aus der Sicht eines Schriftstellers: nüchtern, aber keineswegs gefühllos schaute McBain dorthin, wo die Gesellschaft versagte und dadurch ihre Verbrecher oft selbst heranzog. „Bruder Anthony“ und die „Fat Lady“ sind typische Vertreter ihrer Art: quasi ins Verbrechen hineingeboren, ungebildet, brutal bzw. abgestumpft und außerstande, sich ein Leben außerhalb der Grenzen vorzustellen, in die sie milieubedingt verbannt wurden.

Spannung weiß McBain aus anderen Quellen zu ziehen. Wieder einmal erzählt er in „Eis“ nicht nur eine Kriminalgeschichte, sondern auch eine Tragikomödie der Irrungen & Wirrungen, in der die Polizisten ebenso rat- und orientierungslos agieren wie die Verbrecher. Der ‚Guten‘ wie die ‚Bösen‘ sind Menschen, was McBain niemals vergisst. Selbst Kapitalkriminelle wie „Bruder Anthony“ und die „Fat Lady“ sind keineswegs vertierte Mordmaschinen. Manchmal wirkt McBain wie Quentin Tarantino. Beide wissen, wie man das Böse mit dem Banalen verknüpft und dabei sogar Humor an den Tag legen kann.

Wenn Pläne aus dem Ruder laufen

Dass die Beamten des 87ten Reviers so lange im Dunkeln tappen, liegt an einem Verbrechen mit (zu) vielen Unbekannten. Dank des Verfassers sind wir Leser der Polizei voraus; allerdings nur einen Schritt, weshalb uns die Auflösung ebenso überrascht wie die von ihren Übeltaten eingeholten Schufte. Gewalt, Schrecken, Rache: Genretypisch gern auf die Spitze und darüber hinaus getriebene Emotionen erstickt McBain schon im Keim. Wenn die Hintergründe der in „Eis“ begangenen Verbrechen erläutert werden, ist die Ernüchterung (s. o.) groß.

Eine Ermittlung läuft systematisch ab und basiert auf einschlägigem Wissen und Erfahrungen. Genau diese Kombination führt hier zum Chaos. Mehrfach schildert McBain, wie die Detectives sich beraten und Theorien austauschen. Die Indizien lassen sich einfach zu vielseitig interpretieren. Den Zufall als Faktor wollen die Beamten nicht gelten lassen; dies auch, weil schon der Gedanke an die Macht der Unberechenbarkeit sie ängstigt. In dieser Grauzone können „Bruder Anthony“ und die „Fat Lady“ ungestört ihr Unwesen treiben.

Ständige Überlastung und Personalknappheit sind keine Phänomene der Gegenwart. Die Romane um das 87. Revier leben auch von den beruflichen (und privaten) Problemen der dort tätigen Gesetzeshüter. Improvisation, aber eben auch engpassverursachte Ermittlungssackgassen sind an der Tagesordnung. Nicht Unterstützung, sondern Druck von oben gilt als ‚Ausweg‘, was die durchaus engagierten Männer und Frauen frustriert und auslaugt.

Leben am und jenseits des Limits

„Eis“ weist einen separaten, nur lose mit der Primärhandlung verbundenen Handlungsstrang auf, der sich um die Polizisten Bert Kling und Eileen Burke dreht. Er wurde von seiner (Ex-) Gattin betrogen und leidet unter Depressionen, sie ist einsam und interessiert sich für Kling. Dies führt zu den üblichen Komplikationen führt, doch was zu einer Aneinanderreihung einschlägiger Klischees gerinnen könnte, wird unter McBains gefühlsduselfreier Feder manchmal traurig, dann wieder hoffnungsfroh.

Auch sonst nimmt sich der Verfasser die Zeit, uns seine Figuren jenseits ihrer Polizeiarbeit zu zeigen. Sie sind Ehegatten, Familienväter, Söhne und Töchter, die ihren schwierigen Job mit den Problemen eines Alltags arrangieren müssen, der hehre Gesetzeshüter keineswegs verschont. Wiederum gilt, dass McBain harmonisch in die Gesamthandlung integriert, was dem Krimi allzu oft aufgepfropft wird: Er war ein Vollprofi, der sich in der Welt der Bücher ebenso gut auskannte wie im Kino oder im Fernsehen.

Also stellt sich McBain ohne Furcht einem riskanten Plot, der nicht den üblichen Wettlauf zwischen „Räubern“ und „Gendarmen“ abspult, sondern das Primat des Zufalls und die Macht des Missverständnisses förmlich zelebriert. Zeitweise ist „Bruder Anthony“ der Polizei voraus, weil er sorgfältiger suchte und fand, was geschulten Tatortexperten entgangen war. Ratlosigkeit entsteht auch durch die Frage, was mit dem titelgebenden „Eis“ wirklich gemeint ist. Es gibt verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die McBain geschickt durchspielt (und dabei die wahre Auflösung vernebelt). Zwar ‚siegt‘ letztlich die ‚Gerechtigkeit‘, aber einmal mehr sorgt McBain für ein Finale, das diesbezüglich sämtliche Erwartungen über den Haufen wirft.

„Eis“ im Fernsehen

1995 begann der US-Fernsehsender mit der Ausstrahlung der (aufgrund ausbleibender Zuschauerresonanz kurzlebigen) Serie „Ed McBain’s 87th Precinct“. Nur zwei weitere, spielfilmlange Episoden entstanden in den beiden folgenden Jahren. „Ice“ (dt. „Tod einer Tänzerin“) wurde 1996 gedreht. Als Steve Carella trat Dale Mitkiff vor die Kamera. Profi Larry Cohen sorgte als Produzent für eine (im kanadischen Toronto) zwar möglichst kostengünstig hergestellte, aber nicht billige sowie handwerklich solide Inszenierung, was von der Kritik bemerkt und anerkannt wurde.

Fazit

Band 36 der Serie um das „87. Polizeirevier“ bleibt dem Kanon treu, ohne Verschleißerscheinungen aufzuweisen; ein seltenes Kunststück, das auf perfektem Handwerk basiert und von einem Schriftsteller vorgeführt wird, der aus seiner nur scheinbar kleinen/begrenzten Welt wieder neue Funken schlägt.

Eis

Ed McBain, Bastei Lübbe

Eis

Weitere Bücher der Serie:

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