Inamorata
- Heyne
- Erschienen: Januar 2005
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- New York: Viking, 2004, Titel: 'Inamorata', Seiten: 319, Originalsprache
- München: Heyne, 2005, Titel: 'Inamorata', Seiten: 382, Übersetzt: Edith Walter
Geisterspuk oder heimtückisches Verbrechen?
Im Dezember des Jahres 1923 glaubt Martin Finch, mittelloser Psychologie-Student an der US-Renommieruniversität Harvard in Cambridge, das große Los gezogen zu haben: Der berühmte Professor William McLaughlin heuert ihn als Assistenten an. Finch soll ihn bei seinem Bemühen unterstützen, die parapsychischen Fähigkeiten spiritistischer Medien zu überprüfen. Bisher entlarvte der Gelehrte nur Taschenspieler und Betrüger; ein leibhaftiger Geist ist ihm niemals begegnet.
So bleibt es auch, denn Finch entpuppt sich als findiger Detektiv, der falsche Geisterbeschwörer mit klugen Tricks bloßstellt. Als McLaughlin nach einem Unfall ausfällt, bietet Finch an, ihn zu vertreten. Sein Chef willigt ein, weil der aktuelle Fall ihm sehr am Herzen liegt: Der berühmte Schriftsteller und Hobby-Spiritist Sir Arthur Conan Doyle hat McLaughlin auf ein bemerkenswertes Medium in Philadelphia aufmerksam gemacht. Die junge Mina Crawley, Gattin eines deutlich älteren Chirurgen, gehört zur High Society ihrer Heimatstadt. Lange hatte sie Bitten um ein Treffen zurückgewiesen, bis sie jetzt endlich einwilligte.
Finch hat in Philadelphia einen schweren Stand. McLaughlins Kollegen, die ebenfalls Mrs. Crawleys Einladung folgten, nehmen ihn, den Studenten ohne Titel und Ruf, nicht Ernst. Mit Mina Crawley lernt Finch eine faszinierende Frau kennen, deren Schönheit und Ausstrahlung er nicht gewachsen ist. Die Zuneigung wird durchaus erwidert – oder spielt Mina nur mit Finch? Sie scheint wirklich Kontakt zum Geisterreich aufnehmen zu können, wo ihr der verstorbene Bruder Walter als nicht ungefährliche Kontaktperson dient. Es dauert lange, bis Finch, der seine strengen wissenschaftlichen Standards zunehmend vernachlässigt, einer Wahrheit auf die Spur kommt, die wesentlich unheimlicher als jeder Spuk und vor allem sehr real und gefährlich ist.
Schattenseiten und Abwege der Psyche
Selten trifft die Genrebezeichnung "Psychothriller" den Nagel so auf den Kopf wie hier, wo es nicht um Raub & Mord geht, das Verbrechen jedoch keineswegs ausgespart spart: Es findet in den Köpfen diverser Menschen statt und bleibt äußerlich unsichtbar. Also gibt es weder Schießereien noch Verfolgungsjagden; auch der allseits beliebte Serienkiller bleibt hier außen vor.
Wer nun meint, der Verzicht auf solche Elemente könne nur eine staubtrockene, literarische Kopfgeburt zum Vorschein bringen, wird von Joseph Gangemi eines Besseren belehrt. "Inamorata" ist Spannung pur, ein vielfach verschachteltes Rätsel, dessen Lösung seine Leser immer wieder auf falsche Spuren lotst. Darüber hinaus ist "Inamorata" ein "Coming-of-Age"-Drama, eine Liebesgeschichte sowie ein akkurat recherchiertes Zeitbild; ein Historienkrimi der vorbildlichen Art, der die gewählte Ära (das Jahr 1923) und sein Milieu nutzt, um daraus eine Geschichte zu entwickeln, die sich so in der Gegenwart nicht (mehr) abspielen könnte.
Das frühe 20. Jahrhundert war eine Zeit enormer Umbrüche, Erfasst wurde auch die Medizin, die zudem einen neuen Seitentrieb entwickelte: die Psychologie, eine Wissenschaft, die sich mit dem Wieso und Warum des menschlichen Denkens und Handels bzw. mit deren krankhaften Veränderungen beschäftigt. Nur wenige Jahrzehnte ist sie alt und noch heute keineswegs unumstritten.
Aller Anfang ist schwer – und manipulierbar
Da sind die Vertreter der etablierten Medizin selbst, die nur gelten lassen, was sich sichtbar manifestiert und einwandfrei zu diagnostizieren ist. Zu ihnen möchten sich gar zu gern die Anhänger einer anderen ´Wissenschaft´ gesellen, die in den 1920er Jahren ihren Höhepunkt fand: die Parapsychologie, deren Vertreter vorgaben, der Essenz des menschlichen Seins – der Seele – nach dem Tod in jenes diffuse Reich folgen zu können, das primär unter der Bezeichnung "Jenseits" bekannt ist.
Die Vielzahl von Seancen, in deren Verlauf die Geister Verstorbener beschworen und befragt werden sollten, war u. a. eine Folge des I. Weltkriegs, dem viele Millionen Menschen vorzeitig zum Opfer gefallen waren. Die Sehnsucht verleitet ihre Angehörigen und Freunde, im besagten Jenseits den Kontakt zu versuchen. Dieser Wunsch ging einher mit dem Auftreten von Betrügern, die dieses Bedürfnis ausnutzen wollten.
Zwischen Okkultisten und Psychologen gab und gibt es keinen offiziellen Gedankenaustausch; man ignoriert einander aus vielerlei Gründen. Es bedarf eines Katalysators, um dies zu ändern. Gangemi verleiht ihm die Gestalt der Presse. Sie wird zur Bühne, auf der sich ´Geisterbeschwörer´ produzieren können, was die Forscher so lange provoziert, bis sie sich aus der Reserve locken lassen. Die scheinbar seriöse Aktion der Zeitschrift "Scientific American" ist ein Angebot, dem beide Seiten nicht widerstehen können. Solche ´seriösen´ Versuche, parapsychologische Phänomene zu beweisen, gab es tatsächlich.
Historien- und Wissenschafts-Krimi
Autor Gangemi stellt eine solche Zusammenkunft mit bemerkenswerter Präzision nach. Vor allem integriert er sie in eine echte Geschichte. "Inamorata" ist ein faszinierendes Vexierspiel. Gibt es "Walter" wirklich? Ist Mina eine Betrügerin? Welche Leichen versteckt sie in diversen Schränken? Oder steckt ihr publicitygeiler Gatte hinter allem? So viele Fragen, deren Antworten sowohl "ja" als auch "nein" lauten. Gangemi findet stets einen Dreh den Plot zu zwirbeln und ihn in eine neue, ungeahnte Richtung zu treiben. Vor allem vermag er seine Leser am Haken zu halten.
Noch besser: Die Auflösung kann dem Weg dorthin standhalten. Der Verfasser bedient sich meisterhaft eines eigentlich uralten Tricks: Er überlässt die endgültige Erklärung den Lesern. Sie können der Interpretation des Ich-Erzählers Martin Finch folgen, müssen es aber nicht, denn es gibt weitere Deutungsmöglichkeiten. Das mag den Freund eindeutiger Finales verärgern, doch den Anhänger der Mehrdeutigkeit zum anregenden Grübeln über das Gelesene bringen.
Verstand kontra Liebe
In einem Triller ist die Figurenzeichnung von entscheidender Bedeutung. Das Verhalten wird weniger durch äußere Ereignisse, sondern vor allem von der Psyche bestimmt. Wenn der Autor hier pfuscht, verdirbt er das Lektürevergnügen. Selbst der psychologische Laie erkennt etwaige Logikfehler. Der Psychothriller kann sich nicht in Actionsequenzen retten, das ist ein anderes Genre. Wer sich als Schriftsteller auf das Wagnis einlässt die Handlung ins seelische Innere des Menschen zu verlegen, muss sich hier schon auskennen. Joseph Gangemi hat seine Hausaufgaben gemacht.
Verdächtige Frau & liebeskranker Trottel: Der Autor wandelt in Sachen Figurenzeichnung scheinbar auf bekannten Pfaden. Wieso auch nicht, denn die Konstellation funktioniert, seit es Literatur (oder Menschen) gibt. Martin Finch ist der Tor, der vom Leben reichlich unbeleckt in eine Situation geworfen wird, die ihn schlicht überfordert. Er ist jung und unerfahren, ohne gesellschaftlichen Status, Vermögen oder akademischen Ruhm. Natürlich ist er auch im Bezug auf Frauen Neuling. Seine Liebe zu Mina Crawley ist daher eine unmögliche, die Geliebte wird zum unerreichbaren Traum ("inamorata").
Immerhin erfüllt Finch eine wichtige dramatische Bedingung: Im Verlauf seiner Odyssee durch innere und äußere Krisengebiete lernt er dazu. Zwar angeschlagen aber binnen kurzer Zeit ´erwachsen´ geworden. vermag er sich aus der Crawley-Affäre zu lösen und deutlich weniger naiv ein eigenständiges Leben zu beginnen.
Wer ist Mina Crawley? Über die eigentliche Hauptperson des Romans schweigt sich der Verfasser erstaunlich gelungen aus. Mina ist Täterin und Opfer, Betrügerin und Betrogene; inwieweit sie Finchs Suche nach der Wahrheit insgeheim steuert, bleibt schwer zu entscheiden. Ist Mina geisteskrank oder eine skrupellose Lügnerin? Glaubt sie an ihre medialen Fähigkeiten? Diese Entscheidung bleibt einmal mehr den Lesern überlassen.
Schwarz und weiß ergibt grau
Der wahre Bösewicht unserer Geschichte scheint Dr. Crawley zu sein. Er hat sich Mina, die Liebe seines Lebens, offenbar unter Missachtung aller medizinischen Moral zu Eigen gemacht. Ihre mögliche Geisteskrankheit betrachtet Crawley als Instrument zur Erlangung dessen, was er, der nur trügerisch konservative, gesellschaftsintegrierte Arzt wirklich begehrt: die Aufmerksamkeit der Presse, welche ihn in die Schlagzeilen bringt. Arthur ist ein Vorgänger jener armen Geister, die heutzutage ungeachtet der Talentfrage den Weg in die Schlagzeilen und das Rampenlicht suchen.
Dass auch Professor McLaughlin eine Hauptperson ist, lässt seine Abwesenheit in der Handlung lange vergessen. Doch er ist eine wichtige Schnittstelle zwischen den "Wissenden" und den "Glaubenden", zwischen Wissenschaft und Okkultismus. Der todkranke McLaughlin möchte allzu gern an ein Weiterleben im Jenseits glauben, doch sein Credo als den Tatsachen verpflichteter Forscher hindert ihn daran. Er verkörpert so den aufgeklärten Skeptiker, unter denen sich mancher Leser wiederfinden wird.
Viele oft skurrile Nebenfiguren verleihen "Inamorata" weitere Anziehungskraft. Bemerkenswert ist Gangemis Fähigkeit, seine Geschichte mit gelungenen Gags zu veredeln ohne dadurch deren Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. "Inamorata" beschäftigt sich mit einem ernsthaften Thema, bleibt dabei aber immer unterhaltsam. Gangemi gelingt die Synthese beider Welten: die kluge Unterhaltung. Dieser leider seltene Stoff sollte den Lesern viel öfter geboten werden.
Joseph Gangemi, Heyne
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