Der Professor
- Argon
- Erschienen: Januar 2010
- 24
- Berlin: Argon, 2010, Seiten: 6, Übersetzt: Simon Jäger
- New York: Mysterious Press, 2012, Titel: 'What Comes Next', Originalsprache
Zwei Uhren ticken unaufhaltsam
Adrian Thomas ist pensionierter Psychologieprofessor in einer kleinen Universitätsstadt in Neu-England. Nach einer Reihe von Untersuchungen bekommt er eine niederschmetternde Diagnose zu hören. Demnach leidet er an einer seltenen, schnell fortschreitenden Form von Demenz. Seine schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden, und vor seinem inneren Auge taucht die Vision einer unaufhaltsamen Reise in die Dunkelheit auf. Als er vom Arzt nach Hause kommt, steht er in seiner Einfahrt und blickt auf die Straße hinaus. In der beginnenden Dämmerung sieht er ein etwa 16-jähriges Mädchen vorbei gehen.
Dann rollt plötzlich ein Lieferwagen heran, hält kurz und beschleunigt wieder. Das Mädchen ist scheinbar spurlos verschwunden. Adrian ist völlig verwirrt – ist er Zeuge einer Entführung geworden? Wenn es ein Verbrechen war, muss er dringend handeln. Aber wie? Bleibt ihm genug Zeit, um das Mädchen zu finden, bevor sich für ihn der Vorhang senkt?
Während der Professor sich diese Fragen stellt, wird Jennifer unter unwürdigen Bedingungen in einem Kellerraum gefangen gehalten. Jede ihre Bewegungen und Regungen wird von Kameras beobachtet und live im Internet übertragen. Auf der Web-Seite "whatcomesnext.com" ergötzen sich Voyeure und Spanner in aller Welt an Jennifers Schicksal.
Nach einen genauen Drehbuch wird das hilflose Mädchen von ihren Entführern gedemütigt und zur Schau gestellt. Und es wird schnell deutlich, dass ihr Leben nur so lange sicher ist, wie sich die zahlungskräftige Kundschaft für Jennifer interessiert. Sie ist nicht das erste Opfer, und nachlassende Zahlungen bedeuten immer das Ende der miesen Show.
Es ticken also zwei Uhren – die nachlassende Denkfähigkeit und galoppierende Demenz des Professors, und das zunächst hohe, dann jedoch irgendwann nachlassende Interesse des perversen Publikums für Jennifer. Daneben finden die regulären Ermittlungen der Polizei statt, die sich zuweilen mit denen von Adrian Thomas kreuzen. Seite um Seite nimmt die Spannung zu – bis zum hochdramatischen und spektakulären Finale.
Die zwei parallelen Handlungsstränge, die ihren Ausgangspunkt bei der Entführung von Jennifer haben, machen den außerordentlichen Reiz dieses spannungsgeladenen Romans aus. Beide Protagonisten erleben ihren Weg in großer Einsamkeit. Jennifer ist in ihrem Kellergefängnis allein – bis auf die demütigenden Begegnungen mit ihren Entführern. Diese sieht sie allerdings nicht, denn ihre Augen sind abgedeckt. Die Befehle der Kidnapper sind kurz und knapp – und steigern so immer weiter die Verunsicherung des Teenagers.
Eindringlich schildert John Katzenbach die Ängste und Gefühle des jungen Mädchens. Ohnmacht, Verzweiflung, Aufbegehren, Resignation. Die perfiden Psycho-Spielchen, die das Verbrecher-Pärchen zum Vergnügen der perversen Kundschaft inszeniert, treiben das Opfer an den Rand der physischen und geistigen Belastbarkeit. Es ist bezeichnend, dass Jennifer schließlich Gespräche mit ihrem zufällig mitgebrachten Kuscheltier führt.
Auf der anderen Seite der allgegenwärtigen Kameras sitzen in aller Welt die anonymen Kunden von "whatcomesnext.com" mit ihren unterschiedlichen Motiven. Einige glauben Jennifer zu lieben und leiden mit ihr, andere warten geifernd auf weitere Demütigungen des Mädchens. Katzenbach bietet dem Leser einen ebenso glaubhaften wie erschreckenden Einblick in die äußerst dunklen Seiten des Internets. Und der Autor zeigt auch, was mit genügend krimineller Energie und entsprechendem technischen Wissen an modernen Verbrechen möglich ist. Es wird allerdings auch deutlich, dass ohne zahlungskräftige und -willige Zuschauer – die gerne die Anonymität ihrer Kreditkarten nutzen - die Entführung weder möglich noch nötig wäre.
Die Erfahrungen, die Adrian Thomas bei seiner Suche nach Jennifer macht, sind naturgemäß völlig anderer Art. Einsam ist der Professor nur im physischen Sinne, denn durch seine Halluzinationen führt er ständig imaginäre Dialoge mit verstorbenen Verwandten. Sein Bruder, seine Frau und sein Sohn fordern ihn in diesen Phantasie-Gesprächen zum Handeln auf, sprechen ihm Mut zu und feuern ihn an. Diese Halluzinationen treten nach Aussage des Autors vor allem bei der Art von schnell fortschreitender Demenz auf, an der Adrian Thomas leidet. Dem Leser jagt diese Form von Wahnvorstellungen diverse kalte Schauer über den Rücken.
Mit der Person des Professors ist John Katzenbach eine eminent starke Figur gelungen, die mit purer Willenskraft gegen eine unheilbare und unaufhaltsame Krankheit ankämpft, um ihre Mission zu erfüllen. Der Autor will seine Leser emotional berühren – und das gelingt im hervorragend. Denn auch Jennifer ist eine für ihre Altersgruppe durchaus ungewöhnliche Persönlichkeit – was sich vor allem im anrührenden Finale des Buches nachdrücklich zeigt. Verraten wird das hier natürlich nicht – selber lesen lohnt sich absolut. Ein wirklich starkes Buch, das weitgehend ohne Action auskommt, aber dennoch einen enormen Spannungsbogen bietet.
John Katzenbach, Argon
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