Todesbrut
- Script 5
- Erschienen: Januar 2010
- 9
- Bindlach: Script 5, 2010, Seiten: 479, Originalsprache
Eine menschliche Tragikomödie
Klaus-Peter Wolf kann in seiner Karriere als Schriftsteller bald auf fünfzig Jahre zurückblicken. Schon im zarten Alter von acht Jahren hat er seine erste Geschichte veröffentlicht. Da ist mit der Zeit einiges zusammengekommen, das in millionenfacher Auflage weltweit Verbreitung gefunden hat. Verschiedenste Themen hat Wolf in seinen Erzählungen und Romanen verarbeitet. Im Mittelpunkt seiner Werke steht immer die conditio humana in ihren unterschiedlichen Ausprägungen – das Wesen des Menschen mit seinen Stärken und Schwächen, sein Lavieren zwischen Gut und Böse.
Auch in seinem hier vorliegenden Thriller Todesbrut geht es um den Menschen – genauer: um menschliches Verhalten in einer Ausnahmesituation. In diesem Zusammenhang wundert man sich ein wenig, dass Leser an anderer Stelle fast unisono von einem Öko- oder Umweltthriller sprechen, obwohl in Wolfs Roman weder die Umwelt gefährdet ist, noch eine Gefahr von ihr ausgeht. Eine Virus-Infektion macht den Deutschen zu schaffen, wobei sich der Autor über dessen Genese nur sehr vage ausdrückt. Eine natürliche Mutation eines Vogelgrippe-Virus, die sich Mensch zu Mensch überträgt? Oder ein Virus aus einem US-amerikanischen Geheimlabor entsprungen? - wie Wolf in einer köstlich skurrilen Episode andeutet. Wie dem auch sei – die Gefahr geht vom Menschen aus, in seinen Gedanken und seinem Handeln. Wie wenig sein Verhalten von Vernunft und Solidarität geprägt ist, zeigt Wolf an vielen Beispielen. Dabei kann der Autor auf seine eigenen Erfahrungen zurückgreifen.
Auf einer Lesereise durch die Schweiz ist Wolf im Bahnhof von Luzern vom damals grassierenden Schweinegrippevirus attackiert worden. Seine panischen Gedanken in diesem Augenblick, seine Verwirrung über die Frage, was machst du jetzt, waren Inspiration zu Todesbrut. Anhand einer genauen Analyse von Notfallplänen der verschiedenen Institutionen (WHO, EU, Bund) zeigt Wolf auf, wie sehr Theorie und Praxis im Katastrophenmanagement auseinanderklaffen, wie wenig menschliches Verhalten kalkulierbar ist.
Todesbrut ist im September 2010 bei Script5, dem kleinen Verlag mit dem vielseitigen Programm für junge Erwachsene, erschienen. Schon äußerlich, mit dem düsteren, etwas schlicht geratenen Cover, grenzt Todesbrut sich von der aktuellen, beim Fischer-Verlag erscheinenden Ostfriesland-Krimi-Reihe ab, mit der Wolf beim Krimi-Publikum bestens bekannt sein dürfte. In seinen Romanen (Samstags, wenn Krieg ist, Das Gen des Bösen, Karma-Attacke) arbeitet Wolf gerne mit jugendlichen Protagonisten, das ist auch hier zum Teil der Fall, doch richtet sich der Roman an keine bestimmte Altersgruppe. Todesbrut ist sozusagen ein "All-Age"- Roman.
Todesbrut spielt zeitgleich an verschiedenen Orten rund um Emden. Es beginnt auf der Ostfriesland III, einer Autofähre im Pendelverkehr zwischen Emden und Borkum. Die Passagiere sind fast alle gutgelaunt und in freudiger Erwartung auf erholsame Tage auf ihrer Urlaubsinsel. Keiner von ihnen ahnt, dass sie dort nicht ankommen werden. Im weit entfernten New York sind zahlreiche Menschen an einem Grippe-Virus erkrankt und Flugreisende haben das Virus via Düsseldorf auch nach Emden gebracht – möglicherweise ist die "Pest" schon an Bord des Schiffes.
Im Emdener Susemihl-Krankenhaus behandelt Dr. Maiwald den ersten akuten Fall. Eine Analyse ergibt, dass die Patientin, die in ihrem Urlaub in New York gewesen war, mit einem neuen Typus des Vogelgrippe-Virus infiziert ist, der per Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Maiwald meldet seine Diagnose den Gesundheitsbehörden. Dort und an übergeordneten Stellen laufen alarmierende Nachrichten aus dem gesamten Bundesgebiet ein. Auch in den USA breitet sich das Virus epidemisch aus. Da Kontaktpersonen kaum noch isoliert werden können, wird für Emden eine Quarantäne verordnet. Die Stadt wird von der Außenwelt abgeriegelt.
Auf Borkum hingegen scheint die Welt noch in Ordnung. Von den schlimmen Nachrichten aufgeschreckt bilden Inselbewohner und Urlauber eine Art Bürgerwehr, um die anlandende Ostfriesland III zu stoppen. Die Angst, ein Infizierter könne sich an Bord befinden, ist übergroß. An der Anlegestelle kommt es zu tumultartigen Szenen. Eine Landung kann unter Opfern verhindert werden, aber das Virus ist schon längst da, was aber noch keiner weiß.
Auf einer Hühnerfarm am Stadtrand von Emden gibt es zwar kein Virus, aber Farmer Ubbo Jansen muss sich gegen die amtlich verordneten Zwangskeulung seiner 60.000 Käfighennen wehren. Jansens Sohn Tim, ein engagierter Tierschützer, nimmt den Auftritt des Amtsschimmels auf und stellt sein Filmchen ins Internet, was zu einem unerwarteten, bewaffneten Besuch führt.
Dies sind die Hauptschauplätze von Klaus-Peter Wolfs (un)normalem Wahnsinn. Dazu gesellen sich noch etliche Nebenschauplätze. An allen Handlungsorten haben wir es mit einer Vielzahl von Einzelpersonen zu tun, die Wolf auch alle namentlich benennt, dass man als Leser fürchten muss, den Überblick zu verlieren. Nach und nach kristallisieren sich an den einzelnen "Kriegsschauplätzen" die Wortführer heraus. Die Angst, mit dem Virus infiziert zu werden, hat die Menschen panisch gemacht. Es kommt zu völlig überzogen Reaktionen. An Bord der Fähre z.B. mutiert ein harmloser Büroangestellter zu einem aggressiven Kämpfer, der seine Mitreisenden offen zur Meuterei gegen den Kapitän anstiftet.
Seine Frau konnte nicht fassen, was sie da sah und hörte.(.) Noch hoffte sie, er habe vielleicht das Fischbrötchen in Emden nicht vertragen. Allergien sollen ja bei manchen Menschen gewisse psychische Reaktionen hervorrufen, dachte sie. Jedenfalls erkannte sie ihren Mann nicht wieder.
Klaus-Peter Wolf hat eine unnachahmliche Art, ernsthaften Situationen die Spitze zu nehmen, indem er sie ins Groteske verkehrt. Ob es nun ein abgebissenes Fingerglied ist, das die ganze Mannschaft bedroht oder der Herr Kleinschnittger, dessen Schicksal sein Name schon ankündigt, Wolfs Humor erinnert den Leser für den Augenblick daran, dass er einen Roman liest und lässt ihn lächeln. Das tut gut in einem Katastrophenszenario, das nur allzu deutlich die Realität widerspiegeln kann. Dem Horror den Schrecken zu nehmen und dabei nicht "des Pudels Kern" zu verbrämen, ist wahre Kunst. Wenn militante Tierschützer ihr Leben einsetzen, um eine Legebatterie zu beschützen, wirkt das auf den ersten Blick absurd, bis man sich erinnert, dass sie nicht für den Fortbestand der Käfighaltung kämpfen, sondern um die Freiheit des Federviehs.
Todesbrut ist ein meisterliches Lehrstück über die Dünnhäutigkeit der Normalität. Die Bedrohung durch das Virus ist mehr psychischer Natur. Unter Stress kehren Nichtigkeiten das Unterste zuoberst. Lebenslügen werden offengelegt, Wahrheiten erkannt. Unerwartete Eigenschaften – seien sie nun positiv oder negativ- brechen sich Bahn. Erkenntnisse werden gewonnen über die Menschen, über das Leben, über die Zerbrechlichkeit des Seins... und am Ende machen wir genauso weiter wie bisher? - wie der Rheinländer es lakonisch formuliert: "Et hätt noch immer joot jejange."
Verglichen mit den anderen Romanen Klaus-Peter Wolfs ist Todesbrut sicher das reifste Werk. Wolf hat seinen Mitmenschen nicht nur aufs Maul geschaut, sondern in die Köpfe hinein. Hier vereinen sich Anspruch, Thrill und Humor zu einem grandiosen Schauspiel, das sich keiner entgehen lassen sollte.
Klaus-Peter Wolf, Script 5
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