Das Einstein-Mädchen
- dtv
- Erschienen: Januar 2010
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- London: Harvill Secker, 2009, Titel: 'The Einstein girl', Seiten: 391, Originalsprache
- München: dtv, 2010, Seiten: 457, Übersetzt: Sophie Zeitz
Genie und Wahnsinn
Erst gut 30 Jahre nach seinem Tod wurde bei der Veröffentlichung einer Korrespondenz Albert Einsteins mit seiner ersten Ehefrau Mileva Maric die Existenz einer gemeinsamen vorehelichen Tochter publik. Ein uneheliches Kind zu der damaligen Zeit (Jahrhundertwende) war entgegen aller Sitten, deshalb wurde Elisabeths Geburt verheimlicht. Über ihr weiteres Schicksal kann nur spekuliert werden. Einer möglichen Version ihres Werdegangs hat sich der englische Autor Philip Sington in seinem Roman Das Einstein-Mädchen angenommen.
Philip Sington ist von Hause aus Historiker. Nach der erfolgreichen Veröffentlichung von sechs Romanen mit einem Co-Autor unter dem Pseudonym Patrick Lynch ist Das Einstein-Mädchen nach Zoia´s Gold sein zweites Soloprojekt.
Romane wie dieser entziehen sich einer Kategorisierung, deshalb wäre "Das Einstein-Mädchen" sowohl auf der Histo-Couch als auch auf der Krimi-Couch gut aufgehoben. Er spielt vor historischer Kulisse, ist ein wenig Biographie (Einsteins), aber vor allem die bewegende Geschichte zweier Menschen, die sich in rauen Zeiten sehr nahe gekommen sind – eine Geschichte, die weder an Zeit, noch an Raum gebunden ist.
Wir schreiben das Jahr 1932. Martin Kirsch ist Psychiater an Berlins traditionsreichem Krankenhaus – der Charité. Fachkompetenz und ein stets liebevoller Umgang mit seinen Patienten zeichnen ihn aus. So scheint einer erfolgreichen Karriere nichts im Wege zu stehen, zumal er durch seine Verlobung mit Alma Siegel, Tochter aus begütertem Hause, auch über die richtigen Kontakte verfügt. Die baldige Hochzeit steht an. Das Leben meint es gut mit Martin Kirsch, wäre da nicht....
Die Krankheit. Während des 1. Weltkriegs war Kirsch als Chirurg auf den Schlachtfeldern Frankreichs tätig. Dabei hat er sich mit Syphilis infiziert, einer Krankheit die mehrere Stadien durchläuft, die u.a. dem Erkrankten eine Latenzzeit von einigen Jahren gewähren kann. Ausgerechnet jetzt muss er eine erneute Aktivität des Erregers feststellen. Er beginnt eine Eigenbehandlung mit den damals gebräuchlichen Arsen- und Quecksilberpräparaten. Eine gefährliche und nicht unbedingt wirkungsvolle Medikation.
Der Aufsatz. In einem Artikel für ein Fachblatt hatte Kirsch sich kritisch über die unfundierten Behandlungsmethoden seiner Psychiaterkollegen ausgelassen, was den Unmut der konservativen Ärzteschaft hervorrief und bei nur Wenigen Anklang fand. Applaus gibt es zu Kirschs Entsetzen von völlig falscher Seite.
Elisabeth. Nach einer flüchtigen Begegnung am Morgen trifft Kirsch am Abend in einem Tanzlokal wieder auf die anmutige junge Frau. Ein paar Tänze, ein bisschen Konversation, ein scheuer Kuss – dann ist sie weg, Bis sie einige Tage später in der Charité auftaucht als Patientin.
In einem Waldstück bei Caputh vor den Toren Berlins hatten spielende Kinder eine bewusstlose, stark unterkühlte Frau entdeckt. Die etwas drastischen Erste-Hilfe-Maßnahmen ließen die junge Frau ins Koma fallen, sodass sie in die Charité eingeliefert werden musste. Aus dem Koma erwacht, kann sie sich zunächst an nichts mehr erinnern, ja, weiß noch nicht mal ihren Namen. Berlins sensationslüsterne Presse stürzt sich auf die schöne Unbekannte, nennt sie "Das Einstein-Mädchen", weil bei ihr ein Handzettel zu einer Vorlesung Einsteins gefunden wurde. Auch das Sommerhaus des berühmten Physikers befindet sich in der Nähe des Fundortes.
Martin Kirsch, der als beratender Psychiater in einem Fall von Amnesie hinzugezogen wird, übernimmt diese Aufgabe natürlich gerne, hat er doch "seine" Elisabeth wiedergefunden. War er anfänglich nur von ihrem reizvollen Äußeren angetan, gewinnt sie nun an Attraktivität durch eine mögliche Verbindung zu Albert Einstein. Kirschs gefallener Bruder Max war ein glühender Anhänger von Einsteins Thesen gewesen und so hat sich auch Martin in Erinnerung an den geliebten Bruder mit Einstein beschäftigt. Martin versucht nun Licht in Elisabeths Vergangenheit zu bringen. Hilfreich dabei ist Elisabeths zurückkehrendes Erinnerungsvermögen. In ihren Unterlagen findet Martin konkrete Hinweise, die auf Einsteins erste Ehefrau Mileva Maric Bezug nehmen. Martin macht sich auf nach Zürich, um Mileva zu befragen. Diese verhält sich sehr abweisend, gibt Martin aber einen Hinweis auf ihren und Einsteins gemeinsamen Sohn Eduard, der in einem Züricher Sanatorium wegen Verhaltensauffälligkeiten unter Beobachtung steht. Eduard scheint alles zu wissen, doch Martin ist sich nicht sicher, ob er Eduards Aussagen trauen kann.
Philip Sington erzählt nicht allein die fiktive Geschichte des "Einstein-Mädchens", die eigentlich Marija Dragonovic heißt, oder die Geschichte des Dr. Martin Kirsch in all seinen Konflikten mit Familie, Verlobten und Krankheit, sondern Sington beleuchtet auch die reale historische Bühne – das Erstarken des Nazi-Regimes mit den Auswirkungen auf die Tätigkeit von Wissenschaftlern und Medizinern, der Dauerstreit zwischen Psychiatrie und der aufkommenden Psychologie, auch Einsteins Relativitätstheorie und seine Ansätze zur Quantenphysik werden für den Laien verständlich angerissen. Über das Privatleben des großen Genies äußert sich Sington nur in Andeutungen. Man kann vermuten, dass Einstein kein unkomplizierter Lebensgefährte und Vater war.
Der eigentliche Roman des Das Einstein-Mädchens wird umrahmt von zwei Briefen eines gewissen Eduard, (der Einsteins Sohn sein könnte) an seine Schwester Elisabeth, (die Einsteins Tochter sein könnte), in denen er ihr ein unbetiteltes Manuskript zur Lektüre avisiert – die Geschichte eines Lebens – ihres Lebens ?
Für uns Leser scheint die Geschichte zu schweben zwischen Dichtung und Wahrheit, ein Effekt, der von Sington bewusst eingesetzt wird, erinnert er doch an die Vielschichtigkeit und Unschärfe bei der Quantentheorie.
Er würde nicht zögern, diese Seiten als das Werk eines Wahnsinnigen zu bezeichnen, wenn er feststellt, wie die Figuren, Du und ich und Dr.Kirsch, an verschiedenen Orten gleichzeitig existieren – wie seine Quanten, die er so gern wieder einfangen würde.
...so Eduard in seinem letzten Brief. Wen er meint, ist klar, oder ? Das Genie.
Wir alle kennen Einsteins weltberühmte Formel: E = mc2, kennen die Bilder von ihm, wo er uns burschikos die Zunge rausstreckt. Aber wie war er als Privatmensch? Dazu könnte man eine Biographie lesen oder Philip Singtons spannenden Roman, der Einsteins Person und sein privates Umfeld aus der Sicht des ungeliebten Sohnes Eduard beschreibt.
Ein gut recherchierter Plot, ein komplexer Aufbau, dazu eine adäquate, schöne Sprache machen Das Einstein-Mädchen zu einem kleinen Highlight, das man sich nicht entgehen lassen sollte.
Philip Sington, dtv
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