Das andere Kind

  • Random House Audio
  • Erschienen: Januar 2009
  • 42
  • Köln: Random House Audio, 2009, Seiten: 8, Übersetzt: Gudrun Landgrebe
  • München: Blanvalet, 2011, Seiten: 666, Originalsprache
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Jürgen Priester
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2010

Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit

Wir leben in Zeiten des Etikettenschwindels. Wir sollen Erdbeerjoghurt ohne Erdbeeren kaufen, Rahmspinat ohne Sahne, Roggenbrötchen (fast) ohne Roggen. Die Reihe ließe sich endlos fortsetzen. Markenartikel, die wir mit gestandenen Familienbetrieben in Verbindung bringen, sind schon längst in Konzernes Hand und werden in Billiglohnländern produziert.

Auf unsere Lieblingslektüre bezogen kann das heißen, dass dort, wo z.B. Psychothriller draufsteht, weder Psycho noch Thrill zu finden ist. Wenn "James Patterson" als Autor genannt wird, heißt es noch lange nicht, dass er das Buch auch geschrieben hat. Auch auf die Heroinen der Krimikunst ist kaum noch Verlass. Patricia Cornwell schreibt mittlerweile über die Sorgen der Schönen und Reichen. Elizabeth George versucht sich in Gesellschaftsromanen mit kritischer Note. Beide haben sich, wie einige andere auch, von dem Genre entfernt, das sie berühmt gemacht hat – dem Kriminalroman. Charlotte Link hat in ihrer künstlerischen Laufbahn schon alles mögliche geschrieben: historische und Gesellschaftsromane, Romantic Suspense, Psychothriller und Krimis, wobei die beiden letztgenannten in ihrer Abgrenzung nicht eindeutig sind. In einem Interview hat die Autorin mal über ihre Herangehensweise gesagt, dass sie aus einer Idee, einem Thema ein Konzept entwickle, dies zu einem Plot verarbeite und sich nicht hinsetze, um mit ihrem Roman ein bestimmtes Genre zu bedienen. So entzieht sich Das andere Kind einer Kategorisierung, wozu auch keine Notwendigkeit besteht. Charlotte Link hat einfach nur eine vielschichtige und spannende Geschichte geschrieben, das ist weitaus mehr als viele andere leisten. Um eine kleine Geste der Menschlichkeit – besser um deren Fehlen – geht es in ihrem Roman.

Leslie Cramer erhält eine Einladung aufs Land zur Hochzeit ihrer Jugendfreundin Gwendolyn Beckett. Das passt der vielbeschäftigten Ärztin aus London gut, da sie momentan in argen Differenzen mit ihrer Noch-Ehemann steckt. Eine Auszeit wäre jetzt genau das Richtige, könnte sie doch gleichzeitig und ihre Großmutter Fiona Barnes besuchen, die in Scarborough,Yorkshire lebt. Bei ihr hat sie ein Großteil ihrer Kindheit und Jugend verbracht, da ihre Mutter, ein echtes Kind der Flower-Power-Ära, meist anderweitig beschäftigt war. Das Verhältnis zwischen Großmutter und Enkelin ist nie besonders herzlich gewesen, da Fiona aus verschiedenen Gründen verbittert ist und mit ihren teils verqueren Lebensweisheiten nicht hinterm Berg hält. Eine lange Freundschaft verbindet Fiona mit Gwendolyns Vater Chad Beckett. Bei den Becketts war Fiona als junges Mädchen während des 2. Weltkriegs einquartiert.

Rückblende. London – Yorkshire, 1940. Nazi-Deutschland bombardiert fast täglich die britische Hauptstadt. Im Rahmen eines Evakuierungsprogrammes der Regierung werden schwerpunktmäßig Kinder in ungefährdete Landesteile untergebracht. Unter ihnen ist die elfjährige Fiona Swales. Zufällig und ungeplant wird ihr der kleine Brian Somerville an die Hand gegeben. Brian hatte gerade durch einen Bombenschlag Familie und Heim verloren. Nicht besonders begeistert, doch mitfühlend nimmt sich Fiona seiner an. In Yorkshire werden die beiden von den Becketts, einer Schafzüchter-Familie aufgenommen. Vater Arvid ist ein mürrischer, schwerarbeitender Mann, der seine Familie so gerade über Wasser halten kann. Jeder "Fresser" mehr an seinem Tisch ist ihm Gräuel. Mutter Emma, herzensgut, aber nicht bester Gesundheit, kümmert sich um die Neuankömmlinge. Chad, der pubertierende Sohn der Familie freundet sich mit Fiona an, während er Brian mit der Herablassung eines Heranwachsenden begegnet. Für ihn ist Brian ein "Nobody" - ein Niemand. Brian Somerville, nicht nur traumatisiert durch seine Erlebnisse in London, sondern auch allgemein geistig zurückgeblieben, spricht kaum ein Wort und klammert sich verzweifelt an Fionas Rockzipfel. Dieser ist Brians ständige Anwesenheit lästig geworden, da sie sich in einer ersten jugendlichen Schwärmerei in Chad verguckt hat. Brian hingegen geht schweren Zeiten entgegen – von den Kindern ausgrenzt, vom Pflegevater abfällig als "Das andere Kind" bezeichnet.

Gegenwart. Die Familie Beckett besteht nur noch aus Chad und seiner erst spät geborenen Tochter Gwendolyn. Die Schafzucht hatte Chad nach dem Tode seiner Eltern aufgegeben und bestreitet jetzt mehr schlecht als recht seinen Lebensunterhalt mit der Vermietung von Fremdenzimmern. Seine Freundschaft zu Fiona hat die Jahre überdauert. So ist Fiona, früher noch in Begleitung ihrer Enkelin Leslie, oft und gern gesehener Gast auf der Farm. Als nun Gwen Beckett überraschend ihre baldige Hochzeit ankündigt, sieht sich die alte Dame befugt einzuschreiten, da sie an der Seriosität des Bräutigams zweifelt. Bei einem feierlichen Abendessen kommt es dann auch zum Eklat. Angesichts des Auserwählten Dave Tanner kann Fiona sich nicht zurückhalten und traktiert Dave mit peinlichen Fragen zu seinem Status und seinen Absichten. Dieser verlässt überstürzt die Feier. Am nächsten Morgen ist auch Fiona Barnes verschwunden.

Charlotte Link erzählt ihre Geschichte aus ständig wechselnden Perspektiven, wobei nicht nur die Hauptakteure zu Worte kommen, sondern auch Nebenfiguren wie die ermittelnde Polizistin Valerie Almond oder das Ehepaar Brankley, das seinen Urlaub auf der Beckett-Farm verbringt. Besondere Aufmerksamkeit widmet die Autorin der Lebensgeschichte von Fiona Barnes, deren Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit als hervorgehobene Computerdatei (Das andere Kind doc.) dargestellt wird. Wie so oft spielt auch hier Ereignisse aus der Vergangenheit eine wichtige Rolle, die ganz extrem das gegenwärtige Leben beeinflussen. Es soll nicht verschwiegen werden, dass es hier um Mord und Totschlag geht, die sich nicht nur auf einen familiären Kreis beschränken. Der Roman beginnt nämlich mit dem Schicksal einer Studentin auf ihrem nächtlichen Nachhauseweg. Eine spannende Einstiegsszene, die die Haupthandlung nachhaltig beeinflussen wird. (An dieser Stelle sei vermerkt, dass die Autorin diesen Nebenstrang nicht sauber zu Ende führt.)

Viele falsche Spuren - für den Leser ersichtlich oder versteckt – eine geschickte Verquickung von Vergangenheit und Gegenwart führen zu Wahrheiten, die erschüttern und nachdenklich stimmen. Das Nicht-Hingucken, das Nicht-Wahrnehmen-Wollen von Einzelschicksalen oder das ganzer Völker ist ein Kennzeichen unserer Zeit. Charlotte Link legt einen kleinen Finger auf eine große Wunde.

An anderer Stelle im Internet wird zur Zeit (April/Mai 2011) über den politischen Kriminalroman diskutiert. Auch wenn Charlotte Links "Politik" nicht so offensichtlich ist, nicht auf konkrete Ereignisse oder Missstände eingeht, ist Das andere Kind ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit. Man kann darüber lächeln, denn an manchen Stellen ist der Roman schon arg "cozy" und auf Massenkompatibilität getrimmt. Einige erinnern sich vielleicht an Johannes Mario Simmel, dessen Romane ab den 1960er Jahren ein Millionen-Publikum erreichten, die aber in intellektuellen Kreisen als Trivialliteratur geächtet waren, dabei handelten sie zum Teil von heute immer noch aktuellen Themen wie Genmanipulation, Ausländerfeindlichkeit und Drogenhandel. Weder Simmel, noch Link gaukelten den Lesern eine heile Welt vor mit künstlichen Problemchen. Manchmal erreicht eine dezent vorgetragene Kritik mehr Augen und Herzen.

Das andere Kind

Charlotte Link, Random House Audio

Das andere Kind

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