Anatomie der Täuschung
- Droemer Knaur
- Erschienen: Januar 2009
- 3
- New York: Delacorte Press, 2008, Titel: 'The Anatomy of Deception', Seiten: 342, Originalsprache
- München: Droemer Knaur, 2009, Seiten: 520, Übersetzt: Claudia Tauer
Medizin & Mord in nur oberflächlich feinen Kreisen
Im Jahre 1889 gehört die Medizinische Fakultät der University of Pennsylvania in Philadelphia zu den fortschrittlichsten Einrichtungen in den USA. Dies verdankt sie in erster Linie dem Wirken von Dr. William Osler, der als Professor für Klinische Medizin seine Studenten unermüdlich zur Anwendung modernster Forschungserkenntnisse anleitet. Fasziniert von dem charismatischen Mediziner, hat Dr. Ephraim Carroll seine kleine Privatpraxis in Chicago aufgegeben und ist nach Philadelphia gezogen, um sich Osler anzuschließen. Zwischen den beiden Männern hat sich eine Freundschaft entwickelt, die Osler veranlasst, Carroll zu bitten, als sein Assistent eine neue, finanziell großzügig ausgestattete Stellung anzunehmen.
Die vielversprechende Zukunft wird allerdings durch ein Geheimnis der Gegenwart beeinträchtigt: In einer seiner Vorlesungen, die Osler gern nutzt, um in Anwesenheit von Studenten Leichen zu sezieren, wird der Körper einer jungen Frau präsentiert, die angeblich tot in einer Straße der Stadt gefunden wurde. Doch Osler scheint die Frau zu kennen, und Carrolls Studienkollegen George Turk geht es ebenso. Der mysteriöse Mediziner, der seine Herkunft sorgfältig geheim hält, wird wenig später in einem Versteck sterbend von Carroll aufgespürt: Turk wurde mit Arsen vergiftet und wohl zum Schweigen gebracht.
Der grobschlächtige Sergeant Borst übernimmt den Fall, läuft aber gegen eine Mauer des Schweigens, denn die feine Gesellschaft der Stadt ist involviert. Es geht um heimliche Abtreibung, Drogen und Mord. Zusammen mit der Ärztin Mary Simpson versucht Carroll, Licht in eine Affäre zu bringen, die sich als Komplott erweist, sein Leben in den Grundfesten erschüttern und mehr als einmal gefährden wird …
Historien-Krimi oder Medizin-Historie?
Anatomie der Täuschung erzählt eine Geschichte, die ihre Leserschaft spalten muss. Weder Krimi-Freunde noch das Publikum des ´historischen´ Romans können rundum zufrieden sein, denn Autor Goldstone versucht ebenso eifrig wie ungeschickt, es beiden Gruppen recht zu machen. Der daraus resultierende Widerspruch – der weiter unten näher zu beleuchten sein wird – schadet einem Buch, das inhaltlich wie formal viel zu gut geraten ist, um in einem Meer mehr oder lieblos auf den Markt geworfenen Taschenbücher unterzugehen.
Präzise ist beispielsweise Goldstones Bild einer Vergangenheit, die bar jener pseudo-dramatischen Verklärung bleibt, für die der Historien-Roman berüchtigt ist. Die Realität des Jahres 1889 ist nicht nur farbenfrohe Kulisse, sondern bietet der Handlung ein stabiles Fundament: Nur im Rahmen der beschriebenen Verhältnisse ´funktioniert´ der Plot. Als Journalist, der sich auf historische Themen spezialisiert hat, recherchierte Goldstone gründlich für seinen Roman. Wir Leser wissen dies, weil der Verfasser sich zu ausführlich des angelesenen Wissens bedient. Die Geschichte der Medizin ist ein faszinierendes Thema, dem Goldstone verfiel. Immer wieder stoppt die Handlung, weil er über Themen wie Hygiene, Operationstechnik, Drogen oder medizinische Etikette referiert, statt sie ins Geschehen zu integrieren. Der Informationsgehalt dieser Exkurse ist unbestreitbar hoch. Sie bringen dem Roman nichtsdestotrotz wenig, weil mit dem Tempo die Spannung verschwindet und mühsam neu aufgebaut werden muss.
Verbrechen mit vielen Gesichtern
Breiten Raum nimmt die Rekonstruktion des Gesellschaftslebens im ausgehenden 19. Jahrhundert ein. Wesentlich stärker als heute waren die Grenzen zwischen den sozialen Schichten ausgeprägt, wobei ein Absinken immer, ein Aufsteigen selten möglich war. In diesem Punkt ist Goldstones Ausführlichkeit hilfreich, denn die ´Unantastbarkeit´ einer durch Geburt, Status und Vermögen quasi sakrosankten Oberschicht ist ein wesentliches Element der Handlung.
Reiche Leute dürfen alles: Was heutzutage in gewisser Weise noch gilt, war einst akzeptierte Realität. Weder das Gesetz noch die Presse dürfen den Mächtigen von Philadelphia nahe kommen, während diese nicht nur von ihrem Recht überzeugt sind, gegen Verordnungen zu verstoßen, die nur den ´Pöbel´ betreffen, sondern ganz selbstverständlich Schläger und Killer anheuern oder Polizisten bestechen, um ihre Westen weiß zu halten. Der Schein der Ehrbarkeit genügt, kriminelles Tun wird nur geahndet, wenn der Verursacher so offen entlarvt wird, dass der öffentliche Skandal unvermeidbar ist.
Der Mechanismus dieser aus heutiger Sicht zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit arbeitet buchstäblich wie geschmiert. Er schafft dem Verbrechen eine Nische, die Goldstone seinen Lesern anschaulich schildert. Konsequent verweigert er ihnen ein Happy-End. Kein Schuldiger wird bestraft oder auch nur demaskiert, sondern stattdessen ein Sündenbock geschlachtet.
Die Resignation des ´Helden´
Ephraim Carroll erzählt in der Ich-Form die Geschichte einer großen Täuschung. Er ist der typische Jedermann, der idealistisch und durchaus naiv in ein Geschehen stolpert, das ihn gleichermaßen überfordert wie herausfordert, ihn reifen und – in unserem Fall – resignieren lässt. Carroll ist kein Held, sondern ein Chronist. Die Bombe platzt im Finale nicht, das System obsiegt.
Als junger Assistenzarzt ist Carroll ein Wanderer zwischen den Welten. Sogar der gesellschaftliche Adel wird krank, weshalb ein Arzt, der sonst wohl nicht weit über einem Hausbediensteten rangieren würde, wohl oder übel in feinen Kreisen geduldet wird. Gleichzeitig ist Carroll ständig mit der Not der Unterschicht konfrontiert, deren Angehörige in einem Land ohne organisiertes Gesundheitswesen eher widerwillig medizinisch betreut werden, wenn sie dafür nicht in blanker Münze zahlen können.
Gemeinsam mit Carroll lernen wir Philadelphia ganz oben und ganz unten kennen. Von einer pittoresken Verklärung des Elends nimmt Goldstone Abstand; vor allem die sachliche Beschreibung einer geheimen Abtreibungskammer in den Slums sorgt für ehrliches Schaudern.
Verbrechen als Frage der Definition
Unter den beschriebenen Prämissen konnte es der Verfasser vielleicht gar nicht vermieden, das Krimi-Element in den Hintergrund rutschen zu lassen: Schweigen und Manipulation sind erklärte Gegner der offenen Ermittlung. Carroll geht es folgerichtig weniger um juristische Ahndung, sondern um die Wahrheit. Als er sie gefunden hat, verzichtet er auf die Offenbarung seines Wissens. In einem Nachwort setzt sich ein gealterter Carroll noch einmal mit den Ereignissen auseinander und fasst die Entwicklungen und Veränderungen zusammen, die ´seine´ Medizin in den Jahrzehnten nach 1889 erfuhr.
Recht klischeehaft wirken dabei Carrolls(= Goldstones) Überlegungen zum Wesen der Schuld. Natürlich ist es nicht rechtens, einen kriminellen Mediziner unbestraft zu lassen, aber wird der Verzicht auf Strafe richtig, wenn dieser Verbrecher die Medizin fachlich so weit voranbringt, dass er weitaus mehr Menschen rettet als umbringt? Die Antwort bleibt Carroll verständlicherweise sich und den Lesern schuldig; nicht einmal die größten Philosophen haben sie bisher finden können.
Dieser realistische aber wenig sympathische Charakterzug ist freilich auch einer Klemme geschuldet, in die Goldstone sich selbst gebracht hat: Anatomie der Täuschung ist keine reine Fiktion. Der Verfasser lässt prominente Vertreter der zeitgenössischen Geschichte auftreten: William Osler (1849-1919), William Halsted (1852-1922) oder Thomas Eakins (1844-1916) führten gut belegte Leben. In ein Mord-Komplott waren sie nachweislich nicht verwickelt, weshalb das bekannte Krimi-Finale mit der dramatischen Überführung der Schuldigen ausfallen musste.
Farbiges Nebenfiguren-Personal
Während Ephraim Carroll ein recht biederer, leicht larmoyanter, sogar langweiliger Zeitgenosse ist (und in seiner Rolle sein muss), gibt Goldstone dem Schriftsteller-Affen tüchtig Zucker, wenn er ´sein´ Philadelphia mit bunten Paradiesvögeln und Schurken bevölkert. Figuren wie "Kadaver-Charlie", der Herr des Leichenschauhauses, der Nachtclub-Besitzer Haggens, sein Türsteher und Mann fürs Grobe Mike oder die in Haggens´ Etablissement beschäftigten Huren, die wöchentlich die Namen wechseln, wirken in ihrer rauen, oft brutalen Bodenständigkeit wesentlich ´ehrlicher´ als die in ihren verkrusteten Hierarchien ebenso ruhende wie gefangene High Society.
Mit der Figur der Mary Simpson zielt Goldstone über ein Ziel hinaus, das neben der Unterhaltung auch die Information seiner Leser beinhaltet. Obwohl oder gerade weil die Frau Anno 1889 weder politisch noch kulturell eine gleichberechtigte Stellung einnahm, wollte der Verfasser auf eine energische, unabhängige Frauenfigur nicht verzichten; er konnte es wohl auch nicht, wollte er seinen Roman nicht an einem weiblichen Publikum vorbeischreiben, dem die Präsenz einer handlungsaktiven Frau wichtiger als historische Akkuratesse ist. Also ist Mary nicht nur Ärztin und Frauenrechtlerin, sondern auch alleinerziehende Mutter (aber selbstverständlich hübsch). Diese ehrenwerten Eigenschaften und Carrolls zunehmendes Interesse münden jedoch weder in erotischer Zweisamkeit noch in einer finalen Ehe – so weit in Richtung Seifenoper mag Goldstone doch nicht abrutschen.
Diese Konsequenz ehrt den Autoren und prägt einen Roman, der trotz seiner Seitenstärke eines jedenfalls nie ist: geschwätzig. Die ausführlichen Abschweifungen gehen aber so stark auf Kosten der Spannung, dass Anatomie der Täuschung dennoch aus allen Krimi-Nähten platzt. Weder Fleisch noch Fisch ist dieser Roman, der aufgrund seiner Qualitäten, zu denen noch ein nur leicht historisierender, nie aufdringlicher (und in der Übersetzung gut bewahrter) Stil zu addieren ist, trotzdem eine Empfehlung verdient.
Lawrence Goldstone, Droemer Knaur
Deine Meinung zu »Anatomie der Täuschung«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!