Im Morgengrauen

  • dtv
  • Erschienen: Januar 2010
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  • Cordoba: Almuzara, 2007, Titel: 'Nadie ama a un policía', Seiten: 365, Originalsprache
  • München: dtv, 2010, Seiten: 365, Übersetzt: Matthias Strobel
Im Morgengrauen
Im Morgengrauen
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Stefan Heidsiek
93°1001

Krimi-Couch Rezension vonAug 2010

Schwarzer Tango mit dem Tod

Schadenfreude ist immer noch die schönste Freude. Als Deutschland im Sommer bei der WM in Südafrika den unbequemen Gegner Argentinien im Viertelfinale mit 4:0 aus dem Stadion fegte, und sämtliche Großleinwände der Republik Diego Armando Maradonas weinendes Gesicht abbildeten, konnte sich wohl selbst der fairste und objektivste Fußballfreund nicht eines kleinen spöttischen Lächelns erwehren. Nun trifft man sich im Oktober auf der Frankfurter Büchermesse, wo Argentinien diesjähriges Gastland ist, erneut, weshalb ein genauerer Blick auf die Kriminalliteratur der Heimat von Tango, Steaks und Lamas lohnt. Dort wurde in jüngster Zeit besonders Autor Guillermo Orsi als Meister des neuen lateinamerikanischen Kriminalromans gefeiert und unter anderem für sein Buch Nadie ama a un policía (= Niemand liebt einen Polizisten) mit dem "Premio Internacional de Novela Negra Ciudad de Carmona 2007" ausgezeichnet. Grund genug für den dtv-Verlag, sich die Rechte an diesem Werk zu sichern und es pünktlich zur Messe unter dem (leider sehr nichtssagenden) Titel Im Morgengrauen auf den Buchmarkt zu werfen. Man kann nur hoffen, dass es dort punktgenau landen und möglichst viele Käufer finden wird, ist doch Orsis düstere Mischung aus Hardboiled, Noir, Polit-Thriller und Roadmovie ein satter Treffer ins Schwarze, der Herz und Hirn gleichermaßen bedient, dabei aber auch immer wieder hart an die Schmerzgrenze geht.

Argentinien im Winter des Jahres 2001. Das Land ist hoch verschuldet und steht kurz vor dem Staatsbankrott. Tausende haben über Nacht ihr ganzes Geld verloren. Das Volk geht auf die Straße, es kommt zu Massenprotesten, Plünderungen und bewaffnetem Aufruhr. Während Präsident Fernando de la Rúa verzweifelt versucht, die verfahrene wirtschaftliche Situation, welche sein Vorgänger hinterließ, noch zu retten, ist der Justizapparat bereits damit beschäftigt seine Schäfchen ins Trockene zu bringen, und möglichen Nachfolgern um den Bart zu gehen. In dieser aufgeheizten Stimmung erhält Pablo Martelli, genannt "Gotán", kurz nach Mitternacht einen flehendlichen Anruf seines alten Freundes Edmundo Cárcano. Der Geschäftsführer des Ölkonzerns CPF bittet ihn um dringende Hilfe und sein sofortiges Kommen. Gotán, ein mittlerweile fast sechzigjähriger Handelsvertreter für Sanitärartikel, war während der Militärdiktatur Polizist bei der Policia Federal ... und der alte Bulle hat seinen Spürsinn nicht verloren. Es riecht nach Ärger.

Als er den abgelegenen Küstenort erreicht, an dem sich Edmundo Cárcano mit seiner jungen Geliebten Lorena niedergelassen hat, findet er seinen Freund nur noch tot vor. Erschossen aus nächster Nähe. Gemeinsam mit Lorena tritt Gotán die Flucht an, nur um zwei Tage später neben ihrer Leiche in einem Hotel aufzuwachen. Zu allem Überfluss ist auch Edmundos Tochter entführt worden, und obwohl deren Mutter wenig Vertrauen in einen alten Mann zeigt, der Kloschüsseln verkauft, stellt Gotán eigene Nachforschungen an … die direkt in das Epizentrum der Staatskrise zu führen scheinen.

Sollte es noch eines Beweises bedürfen, dass mittlerweile auch die Kriminalliteratur als ernstzunehmende Bühne für ein Landesportrait taugt, Im Morgengrauen von Guillermo Orsi tritt ihn in beeindruckender Art und Weise an. Der argentinische Autor trumpft mit einer scharfen, ja fast brutalen Beobachtungsgabe auf, welche wohl so nur ein Journalist zu meistern imstande ist, und gibt dem mitteleuropäischen Leser (ins Französische und Englische wurde der Roman bereits übersetzt) Einblick in Argentiniens jüngste, und, das wird hier mehr als deutlich, äußerst düstere Geschichte. An der Seite von Ich-Erzähler Pablo "Gotán" Martelli schickt uns Orsi auf eine Reise, die in erster Linie den Eisberg unter der Wasseroberfläche zeigt und dabei gleichzeitig den Finger tief in die Wunden des heutigen Argentiniens legt. Korrupte Bullen, gekaufte Richter, zum Waffenlager umfunktionierte Krankenhäuser. Eine Welt ohne Hoffnung, wie es scheint, in der Orsi bezeichnenderweise ausgerechnet den Pathologen Burgos als einzigen mitfühlenden Streiter an Gotáns Seite platziert. Letzterer hat den Abstieg vom Bullen zum Bidet-Verkäufer sowohl moralisch als auch äußerlich vollzogen. Außer seiner alten Liebe, einer Tango-Tänzerin, die ihn einst verließ, als sie hinter seine Federales-Vergangenheit kam, ist diesem Prototyp des Macho nichts mehr wirklich wichtig. Den kleinen Keim Gerechtigkeitssinn, welchen er nach dem Tod seines Freundes verspürt, versucht er ebenso schnell zu ersticken.

Über seine Schulter zu blicken und durch seine Augen zu sehen, heißt Achterbahn zu fahren. Der Rausch und der Wahnsinn, der ganz Argentinien zu dieser Zeit erfasst hat, frisst sich zwischen den Zeilen stets an die Oberfläche, zerrt an den Gefühlen des Lesers. Moralische Grenzen sind längst zu Schlachtfeldern verschwommen, auf denen um ein Stück Aas gekämpft wird, mit dem eigentlich niemand mehr etwas anfangen kann. Besonders die Art und Weise wie Orsi uns das "sehen", "spüren" und "schmecken" lässt, ist ganz große Kunst. Gekonnt verbindet er Poesie mit lakonischem Humor, absurdeste satirische Komik mit knallharten, zielgerichteten Stakkato-Satz-Gewittern. Immer wieder fühlt man sich hier an David Peace erinnert, mit dem Orsi seine Liebe zu lyrischen Metaphern teilt.

 

In der Nacht des 21. Dezember 2001 blickte die argentinische Nation vom Kopfende ihres großen Bettes ins Dunkel, um sich benommen, aber befriedigt vom großen Orgasmus zu erholen.

 

Orsis Schnoddrigkeit bricht sich zwischendurch immer wieder Bahn, dieser hinterhältige Witz, der zu einem Lachen verführt, das dann schnell im Halse stecken bleibt. So skurril seine Figuren auch sind, macht der Autor doch nie den Fehler sie der Lächerlichkeit preiszugeben. Sie dienen lediglich als Träger um die Ambivalenz und Ironie im verzweifelten Streben der Argentinier nach einer echten Demokratie zu unterstreichen. Wo andere Autoren sich da in seitenlangen Auswüchsen ergehen, braucht Orsi wenig Raum. Ihr Wünsche erklären sich durch ihre Handlungen. Die Landschaften durch die sie reisen, verbildlichen sich aufgrund der Menschen, denen Pablo auf seinen vielen Fahrten begegnet. Es ist diese kalte, ökonomische Eleganz, welche das Buch aus der Masse heraushebt und letztlich die drastischen Szenen umso eindringlicher wirken lässt.

 

Der erste Schuss zersplitterte die Windschutzscheibe. Kein guter Start für den Richter und mich. Blut lief uns übers Gesicht.

So schnell ich konnte, legte ich den Rückwärtsgang ein und trat das Gaspedal durch, um dem Kugelhagel zu entkommen. Mein Vokabular verarmte schlagartig. Schweine, knurrte ich, immer wieder, Schweine, während ich den Weg zurückrumpelte, Schweine, zu spät sah ich den Traktor, der sich in den Weg schob, Schweine, Bremsen war nicht mehr möglich. Der Aufprall war so stark, dass der Richter und ich wie Crashtest-Dummys nach vorn geschleudert wurden. Mir wurde schwarz vor Augen, Schwei...

 

Was ist nun mit der Spannung? Auch hier hat Orsi seine Hausaufgaben erledigt. Gotáns Ermittlungen fördern immer wieder neues und vor allem überraschendes zutage, wobei besonders im letzten Drittel einige Wendungen dem Ganzen noch einmal unheimlich an Fahrt verleihen und ein atemloses Ende im Western-Stil einläuten, das Sergio Leone nicht besser hätte in Szene setzen können. Ganz, ganz großes Kino.

Im Morgengrauen ist ein Roman, der nicht nur dem Leser das Gefühl vermittelt, etwas Besonderes gelesen zu haben – er IST etwas Besonderes. Ein eindringliches, präzise beobachtetes Gemälde über eine in Auflösung begriffene Gesellschaft und ein sprachlicher Genuss, der lange nachwirkt.

Im Morgengrauen

Guillermo Orsi, dtv

Im Morgengrauen

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