Die Vogelscheuche
- Kampa
- Erschienen: Januar 2011
- 7
- London: Orion, 2009, Titel: 'The Scarecrow', Seiten: 551, Originalsprache
- München: Heyne, 2011, Seiten: 450, Übersetzt: Sepp Leeb
- München: Heyne, 2012, Seiten: 493, Übersetzt: Sepp Leeb
- Zürich : Kampa, 2022, Seiten: 520, Übersetzt: Sepp Leeb
- Zürich : Kampa, 2022, [eBook], Übersetzt: Sepp Leeb
Serienkiller im digitalen Godmode
Der Siegeszug des Internets und die Wirtschaftskrise machen den klassischen Printmedien allmählich den Garaus. Auch die "Los Angeles Times" muss sparen. Wie überall werden die Kosten gesenkt, indem Personal ´abgebaut´ wird. Niemand ist sicher, wie auch Jack McEvoy, altgedienter Polizeireporter, erfährt, dem nach zwanzig erfolgreichen Arbeitsjahren gekündigt wird.
Als besondere Demütigung soll er noch seine Nachfolgerin einarbeiten, bevor er geht. Angela Cook ist jung, hübsch und wird schlechter bezahlt als McEvoy, der dem Arrangement nur deshalb zustimmt, weil er sich mit einer großen Story verabschieden und für eine neue Stelle empfehlen will. Den Aufhänger bietet der Anruf einer Mutter, die sich über einen Justizirrtum beklagt. Alonzo Winslow hat angeblich eine Tänzerin umgebracht, was er vehement bestreitet. Polizei und Staatsanwaltschaft würden den Fall gern schnell und erfolgreich abschließen, sodass sie die Unschuldsbeteuerungen des Verdächtigen nicht allzu sorgfältig überprüfen.
Mit dem Instinkt des erfahrenen Journalisten erkennt McEvoy, dass dieser Fall auf wackligen Füßen steht. Seine Recherchen legen außerdem frühere Frauenmorde offen, die auf ganz ähnliche Weise begangen wurden. Bald muss auch die Polizei zugeben, dass ein bisher unbekannter Serienkiller sein Unwesen treibt. Als dieser wiederum feststellt, dass seine Tarnung aufzufliegen droht, beginnt er mit Hilfe modernster EDV-Technik seine Spuren zu verwischen und setzt McEvoy unter Druck, der plötzlich ohne Kreditkarte, Handyvertrag oder Internet-Zugang dasteht. Als McEvoy und Cook immer noch nicht von ihrer Story ablassen wollen, beschließt der Killer, die Reporter endgültig zu erledigen. Zumindest Jack McEvoy, der inzwischen von der FBI-Agentin Rachel Walling unterstützt wird, erweist sich als hartnäckiger und ebenbürtiger Gegner &
Schöne, neue, dumme Welt
Der "american dream" basiert auf der Überzeugung, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Rückschläge auf dem Weg zu Ruhm & Reichtum werden als Marken jenes Weges gedeutet, der den unermüdlich Strebenden schließlich als Sieger über die Ziellinie bringen wird. Dass die Realität anders aussieht und Globalisierung oder Rationalisierungsfortschritt auch den ins Abseits stellen, der sich an die Spielregeln hält, ist eine noch relativ junge, traumatische sowie gern geleugnete Erkenntnis. Michael Connelly nutzt sie als Grundlage für den Einstieg in einen modernen Kriminalroman.
Die Idee ist bestürzend gut und wird so geschickt umgesetzt, dass Connelly sich selbst ein Bein stellt: Sein letzter Auftrag ist ein sauber geplotteter, spannend geschriebener Roman, dessen Krimi-Plot es mit dem realen Horror eines personellen "Outsourcings" nicht so recht aufnehmen kann. Ein Serienkiller geht um und metzelt Frauen in Horrorfilm-Manier. Das ist im Vergleich dazu alles andere als eine Novität. In der Tat muss sich Connelly alle Mühe geben, der vieltausendfach ausgewalzten Schauermär einige Glanzlichter aufzustecken.
Der Weg ist wieder einmal das Ziel
Ein Mann wird gefeuert. Er ist gut in seinem Job, hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Sein berufliches Ende basiert auf einer rein ökonomischen Entscheidung. Das persönliche Drama des Jack McEvoy fesselt den Leser sofort. Connelly schürt das Feuer, indem er McEvoy mit seiner taffen, hungrigen Nachfolgerin konfrontiert. Wie wird der gedemütigte Journalist reagieren?
Er leugnet, ignoriert, gaukelt sich Alternativen vor. Die daraus resultierende Stimmung begründet die Intensität, mit der McEvoy sich in seinen letzten Auftrag verbeißt. Nun setzt die eigentliche Krimi-Handlung ein. Connelly entwirft sie nicht als "Whodunit". Die Identität des Killers ist dem Leser immer bekannt; dieser bestreitet bereits den Prolog. Connelly weicht dem ohnehin beinahe unmöglichen Problem, im 21. Jahrhundert noch einen originellen Serienkiller zu kreieren, auf diese Weise geschickt aus. Er widmet dem Killer und dessen üblicher Vorgeschichte inklusive gestörter Mutter, Missbrauch & Wahnvorstellungen vergleichsweise wenig Raum bzw. skizziert sie sogar erst in einem Epilog, als die eigentliche Geschichte bereits ihr Ende gefunden hat.
Stattdessen ist der Killer auch ein professioneller Identitätsdieb und Manipulator. "Scarecrow", also "Vogelscheuche", betitelte Connelly seinen Roman. Der Mörder verdient sich seinen Lebensunterhalt damit, sensible Datenbestände zu betreuen und gegen Hacker zu sichern, die er nicht nur abwehrt, sondern auch mit Hilfe fingierter Indizien als Kriminelle brandmarkt, ihre Konten abräumt, sie beruflich, finanziell und privat ruiniert.
Wie dies geschehen kann, schildert Connelly auf eine Weise, die den Fachmann vermutlich zum Lachen reizt. Der lesende Laie findet es jedoch dramatisch, wie der Verfasser ihm die Schattenseiten der digitalen Gegenwart vor Augen führt. Indem der Killer McEvoy die Identität nimmt, wirkt er wesentlich gefährlicher als während der späteren ´klassischen´, also körperlichen Attacken.
Eine Reise durch das Connellyversum
Michael Connelly schreibt verschiedene Serien sowie Einzelromane. Sie spielen in einer gemeinsamen Welt. Ihre Figuren begegnen einander, lösen Fälle zusammen, nehmen serienübergreifend Kontakt auf. Eine dramatische Notwendigkeit gibt es dafür nicht, weshalb der Verfasser von der Kritik oft gescholten wird. Ihm scheint dieses Spiel Freude zu bereiten; er bleibt dabei und knüpft immer neue Verbindungen. Auch Jack McEvoy ist fest ins Connellyversum eingebunden. Er kennt den Cop Harry Bosch und den "Lincoln Lawyer" Michael Haller der wiederum ein Halbbruder von Bosch ist und frischt in Sein letzter Auftrag die Beziehung zur FBI-Agentin Rachel Walling auf, die zwischenzeitlich mit Bosch verbandelt war.
Kennengelernt haben wir McEvoy in dem Roman Der Poet (1996; zu diesem Roman gibt es eine Fortsetzung, die Harry Bosch wer sonst? als Hauptfigur bestreitet und u. a. den Tod des Polizei-Kollegen Terry McCaleb untersucht, der 1997 Held des Connelly-Romans Das zweite Herz war). Wie Bosch und Haller ist er ein Profi, der einerseits alle Kniffe und Schlichen kennt, während er sich andererseits ausgeprägte idealistische Züge bewahren konnte. Der private Jack McEvoy ist eine vergleichsweise profilarme und durchaus uninteressante Gestalt. Sie lebt durch ihre Tätigkeit: McEvoy ist nicht ein, sondern "der" Journalist.
Ebenso ist Rachel Walling "die" FBI-Agentin, auch wenn der Autor ihr eine stürmische berufliche Karriere verordnet: Connelly-Figuren haben Probleme mit Obrigkeiten, die sich lieber selbst verwalten, als ihre Aufgaben zu erledigen und dabei einfallsreich zu sein oder gar Risiken einzugehen. Ansonsten wirkt Walling ebenso diffus wie McEvoy, was auch die die peinlichen, lächerlichen und aus heiterem Himmel über den Leser hereinbrechenden Liebesszenen erklären könnte, für die Connelly berüchtigt ist.
Alles wird gut oder zumindest anders
Das letzte Romandrittel bestreitet Connelly mit Krimi-Routinen. Der Abstand zwischen Killer und Verfolger verringert sich, während die Gefahr steigt. Dabei zeigt uns der erfahrene Verfasser, wie man dies inklusive zeitweiliger Fehlschlüsse als Folge professioneller Ermittlungsarbeit inszeniert, ohne dabei dem Zufall eine allzu gewichtige Rolle zu übertragen. Selbstverständlich gehen spätestens im Finale alle klugen Pläne schief, um zugegeben etwas mechanisch einen krönenden Abschluss zu schaffen.
Zwar ist der Schurke geschnappt, doch das Ende ist dennoch offen. Jack McEvoy dreht der schnöden Realität eine letzte Nase und kehrt nicht in seinen Job zurück. Wie er sich neu orientiert, wird zweifellos zu einem der Handlungsstränge in McEvoys nächstem Abenteuer, dem Connelly so bereits den Boden bereitet und gleichzeitig seine Leser erfolgreich neugierig macht.
Michael Connelly, Kampa
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