Das Alphabet der Knochen
- Kunstmann
- Erschienen: Januar 2010
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- München: Kunstmann, 2010, Seiten: 431, Übersetzt: Wolfgang Müller
- München: Goldmann, 2012, Seiten: 431
Dr. Watson hinter den Spiegeln
Es gibt Filme, Musik und Bücher, die besitzen einen magischen Moment, etwas kleines, beiläufiges, das gerne unauffällig im Hintergrund passiert und scheinbar in keinem direkten Bezug zu Handlung und Inhalt steht und doch darauf hin- und manchmal darüber hinausweist.
In Louise Welshs Das Alphabet der Knochen ist dies ein kurzer Gedanke Dr. Watsons inmitten der nächtlichen Insel Lismore: "Sternlos und bibelschwarz".
Dorthin hat es den Literaturdozenten konsequenterweise verschlagen, unternahm doch der Dichter Archie Lunan seinen tödlich endenden Segeltörn im Jahr 1970 an den Gestaden jener kleinen, malerischen Insel an der Westküste Schottlands. Jener Archie Lunan, der Zeit seines Lebens nur einen schmalen Gedichtband veröffentlichte, den Dr. Murray Watson aber für so essentiell hält, dass er Lunans Andenken und Bedeutung mit einer Biographie würdigen möchte.
Dafür befragt er Menschen, die Lunan persönlich kannten. Um sich ganz am Ende der vermutlich wichtigsten Person im Leben Lunans zu nähern: seiner Geliebten Christie Graves, die in einem kleinen Cottage auf Lismore lebt.
Doch als sich die Chance endlich ergibt, der zunächst ablehnenden Christie gegenüber zu treten, ist Watson fast davon abgerückt zu tief im Leben Lunans zu wühlen. Haben sich doch Verbindungen, Verwicklungen und Verdachtsmomente aufgetan, die mehr Fragen als Antworten bergen. Und vor allem Murray Watsons eigenes Leben aus den Angeln heben könnten. Doch wie das so ist, mit den Geistern (der Vergangenheit), die man rief: man wird sie nicht mehr los. Und so wird eine stürmische, sternenlose und verregnete Nacht im sumpfigen Gelände Lismores zur entscheidenden in Dr. Watsons bisherigem Leben. Und in dem einiger anderer Personen.
"Starless and Bible Black" ist ein Album King Crimsons, jener Band, die wilde Experimentierlust und klassisch geschulten Rock unter einen Hut brachte und keine Scheu vor orgiastischen Hymnen wie Exkursionen in die Kakophonie besaß. Auf den ersten Blick eine seltsame Allegorie für die poetische Nachtbetrachtung des ewig zaudernden Literaturliebhabers Murray Watson. Auf den zweiten aber die perfekte Wahl: heißt das erste Stück des Albums doch "Der große Täuscher" ("The Great Deceiver"). Und trifft damit eines der zentralen Themen des Buches.
Biographien, die mehr im Schein als im Sein angesiedelt sind. Beginnend mit der Hauptfigur, die ihr Idol für die Nachwelt erhalten will und doch nur den eigenen Ängsten und Verfehlungen nachjagt. Der so sehr Sicherheiten gewinnen möchte und am Ende nur vor einem Scherbenhaufen zerbrochener Existenzen steht. Und genau daraus die Kraft bezieht weiter machen zu können.
Wieder ein Roman, dem man das Kriminal- voranstellen kann, der es aber nicht unbedingt verlangt. Klar, Dr. Watson ermittelt, aber gab es Morde, provozierte Todesfälle oder hat das Leben nur seine unberechenbare Bahn gezogen? Louise Welsh überlässt ihren Lesern die Deutung. Kein alles überstrahlender Serienkiller, kein leidvoller, am Ende triumphierender Ermittler in Sicht. Stattdessen Protagonisten, die an ihrem Selbst zerbrechen, deren Leben eine ewige Jagd nach dem Mehr ist, das sich jeder von der eigenen Existenz wünscht.
Das Alphabet der Knochen ist hervorragend geschrieben, achtbar übersetzt, vermutlich nicht ganz ohne Verlust, aber trotzdem poetisch und klar. Manchem zu deutlich in seinem Stil, wird Welsh doch gelegentlich der harsche Gegensatz von Idylle und Exkrementen ("Schafscheiße") angekreidet. Aber so sind sie halt, unsere akribischsten und genauesten Chronisten: sehen immer auch den Dreck inmitten all der Schönheit. Und wer gerne die Augen verschließt, wird fast zwangsläufig mitten hinein treten.
Mit Das Alphabet der Knochen zeigt sich Louise Welsh als begabte Nachlassverwalterin Patricia Highsmiths. Die Brüchigkeit der Existenz, des Lebens. Nichts sonst.
Und wenn im weltweiten Netz ein Leser vom Buch enttäuscht ist, und darauf verweist wie toll ihm im Vergleich Higshmiths Der Stümper gefallen hat, ist selbst das eine Bestätigung, die Das Alphabet der Knochen erfährt: auf der richtigen Straße unterwegs zu sein, um dann aus der Kurve zu fliegen. Wie Andrew Garrett. Dessen Frau Murray Watson für einen Augenblick zeigt, wie mit sich selbst zufrieden Leben sein kann. Ein Handy, ein Traum. Ausgeträumt.
"In the night he's a star in the Milky Way
He's a man of the world by the light of day
A golden smile and a proposition
And the breath of God smells of sweet sedition
Great Deceiver".
Louise Welsh, Kunstmann
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