Das Moskau-Spiel
- Kiepenheuer & Witsch
- Erschienen: Januar 2010
- 2
- Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010, Seiten: 400, Originalsprache
- Bielefeld: Pendragon, 2014, Seiten: 480, Originalsprache
Spiel mit Geschichte und Fiktion
Am 25. September 1983 verhinderte ein sowjetischer Offizier den eigentlich anstehenden atomaren Schlagabtausch mit dem Westen oder sogar gleich den Weltuntergang. Wie brenzlig die Situation damals tatsächlich war, ist heute einigermaßen bekannt – der Slogan amerikanischer Reiseveranstalter zu jener Zeit war zwar zynisch, aber realistisch: "Besuchen Sie Europa, solange es noch existiert!"
Christian v. Ditfurth, alter Dekapist und Historiker, legt den Finger in diese Wunde der jüngeren Zeitgeschichte; der Prolog in seinem Roman Das Moskau-Spiel erzählt genau diese wohl gefährlichste Situation der europäischen Nachkriegsgeschichte.
Als Jahrzehnte später, also in unserer Zeit, in Moskau ein BND-Agent bei einem Verkehrsunfall stirbt, wissen alle, die ihn kannten: Das kann nicht sein. Dieser Scheffer, der nach vielen Jahren und auf eigenen Wunsch wieder in Russland eingesetzt wurde, war viel zu gut und zu vorsichtig, um in einer Seitenstraße einfach überfahren zu werden. Es muss der russische Geheimdienst FSB gewesen sein, der Scheffer umbrachte.
Qualifikation: Sohn
Nun gilt es zunächst, Formalitäten abzuwickeln: Die Leiche muss überführt werden – reine Routine. Darum kümmert sich der junge Theo Martenthaler, ein eher unzuverlässiger, saufender und äußerst sturer Nachwuchsagent, dessen höchste Qualifikation sein Nachname ist: Sein Vater war in den Achtzigern mit eben jenem Scheffer in Moskau zugange. Russischen Geheimdienstleuten ist der Name Martenthaler also bestens vertraut; nicht sehr zum Vorteil des jungen Mannes.
Aber dann wird es komisch: Zum Überführen gibt es keine Leiche, nur eine Urne. Da soll Scheffer drin sein. Eher widerwillig kehrt Martenthaler Junior nach Deutschland zurück; aber die Sache lässt den Nachwuchsmann nicht in Ruhe. Ist Scheffer vielleicht gar nicht tot? So geht er, ohnehin nicht als Teamplayer bekannt, allein zurück nach Moskau. Ohne jegliche Rückendeckung. Schließlich hat er auch was zu beweisen: Dass er den gewaltigen Schatten seines Vaters überwinden kann.
Das Moskau-Spiel führt in eine Welt, in der niemand dem anderen vertraut, in der sich alle gegenseitig bespitzeln und alle gemeinsam andere Länder und natürlich die Bevölkerung. Der Roman lebt von der plausiblen Schilderung gewagter Verschwörungstheorien, die so gradlinig und klar dargestellt werden, dass sie überhaupt nicht als solche erscheinen. Das alles könnte wahr sein – und dazu ist das Buch noch verdammt gut recherchiert; vorausgesetzt, die Sachen stimmen alle. Ich kann das nicht nachprüfen.
Der Kalte Krieg läuft ununterbrochen weiter
Genau damit spielt Christian v. Ditfurth: Mit den fehlenden Kenntnissen der Leserschaft, mit der Leichtgläubigkeit derjenigen, die beispielsweise Fernsehnachrichten für bare Münze nehmen müssen, weil alternative Informationen fehlen.
Wie war das damals wirklich in der Sowjetunion, als in den frühen Achtzigern kurz hintereinander die KPDSU-Generalsekretäre Breschnew, Andropow und Tschernenko starben? Als KGB-, BND- und CIA-Agenten in Moskau operierten, von denen etliche einfach verschwanden? Und was haben die heutigen Strippenzieher mit den Ereignissen von damals am Hut? So springt der Roman zwischen damals und heute hin und her, wodurch sich ein plastisches Gesamtbild ergibt, das manchmal schwer verdaulich ist – was am brisanten Mix aus historischem Wissen und offenbar spekulativen Phantasiegebilden liegt, die so präzise in die Realität und ihre Figuren eingewickelt werden, dass man es wirklich mit der Angst zu tun kriegt.
Das Moskau-Spiel ist also ein kalt kalkulierter Spionagethriller, der virtuos und immer wieder überraschend echte Größen der internationalen Politik in ein neues, wenn auch fiktives Licht stellt. Das erinnert durchaus an die großen Klassiker der Politkrimis, die allerdings selten eine derart klare – linke – Position bezogen.
Das einzige, was man v. Ditfurth vorwerfen kann, ist die enorme Sachlichkeit, mit der er vorgeht. Bis der Roman richtig in Fahrt kommt, liefert er leider ein Überangebot an Adjektiven ab und benutzt so manches literarische Klischee, das er sich auch hätte verkneifen können. Aber dann, nach vielleicht fünfzig Seiten, glänzt die Prosa, alles ist im Fluss, überall lauern reale Gefahren; und so steigt die Spannung. Der Humorfaktor allerdings ist durchgehend niedrig.
Als der Kalte Krieg offiziell für beendet erklärt worden war, gab es bei Krimilesern die klare Befürchtung: Jetzt wird es wohl kaum noch internationale Thriller geben, in denen der Ost-West-Konflikt aktuell thematisiert wird. Das Gegenteil ist der Fall: Das Moskau-Spiel ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass historische Fakten durchaus anders interpretiert werden können.
Christian von Ditfurth, Kiepenheuer & Witsch
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