London Boulevard
- GRIOT Hörbuch Verlag
- Erschienen: Januar 2010
- 6
- London: Do-Not 1, 2001, Titel: 'London Boulevard', Seiten: 237, Originalsprache
- Filderstadt: GRIOT Hörbuch Verlag, 2010, Seiten: 4, Übersetzt: Peter Lohmeyer
Tödliches Straßen-Theater
Ken Bruen macht keine Gefangenen. Und seine Hauptfigur Mitchell auch nicht. Bricht er doch gleich einem rotzigen Autofensterputzer den Arm, nachdem der ihm auf’s Auto gespuckt hat. Wenige Augenblicke nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde.
Kein Wunder, dass Mitch bei gewissen Leuten begehrt ist. Als Geldeintreiber, Komplize bei einem Banküberfall und potenzieller Autodieb. Doch das ist nicht sein Metier, im Gegensatz zu seiner durchgeknallten Schwester Briony, die kleptomanisch veranlagt ist und gelegentlich glaubt, ihr toter Mann Frank weile noch unter den Lebenden. Bis sie sich unsterblich in einen indischen Arzt verliebt. Für eine knappe Woche…
Mitchell will nicht unbedingt aus dem lukrativen und komfortablen Verbrecherleben aussteigen, aber als er dem Gangsterboss Gant in die Quere kommt, und es sich ergibt, dass er bei der alternden Theaterdiva Lillian Palmer als Mann für’s Grobe anheuern kann, versucht er seiner kriminellen Vergangenheit den Rücken zu kehren. Doch die lässt sich so leicht nicht abschütteln. Nur eine kleine Unebenheit auf Mitchells Weg. Lässig beiseite zu räumen. Glaubt er jedenfalls. Richtig ungemütlich wird es erst, als Mitch Lillians Bettgefährte wird, und er sich zugleich in eine andere Frau verliebt. Was sind schon brutal agierende englische Gangster gegen eine liebeskranke Schauspielerin und ihren zutiefst loyalen Butler? Bleibt am Ende nur Albert Camus: "Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann." Das kann Mitchell gut.
Wow. Ein Spagat zwischen hartem Noir im Gangstermilieu und "Sunset Boulevard". Angefüllt mit Gewalt und literarischen Verweisen. Versehen mit dem passenden Soundtrack. Sätze wie in Stein gemeißelt. Derart knapp, präzise, unglaublich lakonisch und voll bitterschwarzem Humor schreibt kaum ein anderer lebender Autor. Nicht mal Lee Child. Und der fasst sich schon kurz.
Etliche Vorbilder und literarischen Wegbegleiter bekommen zudem ihre Ehrerbietung erwiesen: Mitchell liest unter anderem Camus, Charles Willeford und James Sallis und besucht mit seiner großen Liebe Aisling eine Lesung von James Ellroy. Das Beste: Es passt zusammen. Der harte Knochen mit dem Rest von weichem Herzen, der sich im Knast das Lesen angewöhnt hat und in der Freiheit nicht darauf verzichten möchte. Genauso wenig wie er seine rabiaten Regungen ablegt. Mitchell hat sich unter Kontrolle, doch nur so weit, bis jemand denen zu nahe tritt, die er mag und liebt. Fatal: in dem Moment, in dem er die Kontrolle für kurze Zeit aufgibt, wird er bitterlich dafür bestraft.
London Boulevard lässt harte Straßenrealität und Große Illusion aufeinanderprallen und zeigt, so brutal und direkt die eine ist, so verlogen und genauso gewalttätig ist die andere. Immer nur stellt sich die Frage wie weit die eigenen Obsessionen gediehen sind. Von denen in Bruens Welt niemand frei ist. Mal äußern sie sich eher harmlos, bzw. gegen das eigene Selbst gerichtet, aber meist bedeuten sie Macht bewahrende und darstellende Gewaltausübung oder manische Anspruchssicherung.
Mitchell ist ein Reisender zwischen beschissenen Welten. Der ihm eigene Stoizismus, die Liebe zu Musik und Literatur und die Hoffnung, dass es eines Tages auch gut für ihn ausgehen könnte, lassen ihn weitermachen.
Mit London Boulevard erweitert Ken Bruen sein Universum um eine weitere, hochinteressante und spannende Facette. Mag Mitchell auch ein Bruder im Geiste von Jack Taylor sein, so ist ihm sein eigenes Scheitern viel bewusster. Wie Jack dem Alkohol, Musik und der Literatur ergeben, findet er wesentlich mehr Trost und Ansporn darin. Mitchell verliert, doch haut er dem Schicksal seine Verachtung mit größtmöglicher Wirkung und trotzdem geradezu beiläufig ins Gesicht.
Was zu einem der lässigsten Schlusssätze seit "Vom Winde verweht" führt. London Boulevard ist ein
nur scheinbar hingerotztes,
maulfaules,
hellwaches,
herausforderndes
literarisches Monument, das mit dem Genre Kriminalroman spielt, ihn gleichzeitig ernst nimmt und auseinander reißt. Und einmal mehr bestätigt: "Hell is a woman".
Meisterlich …
Kerrkovian erleichterte ich um
Eine Sig Sauer .45
Eine Brieftasche
Zigaretten
Ein Stilett
Und einen Zettel mit einer Telefonnummer,
Die von Gant.
Dem Punk nahm ich ab:
Eine Browning
Ein dickes Bündel Geldscheine
Pfefferminzbonbons
Kondome
Koks.
Ein Gedicht von einem Buch. Ich liebe es.
PS.: Ein weiterer Grund zur Freude für deutschsprachige Leser - London Boulevard wurde nicht von Harry Rowohlt übersetzt. Soweit der Eindruck ohne Kenntnis des Originals nicht trügt: Conny Lösch hat ihre Sache verdammt gut gemacht.
PPS.: Interessante Koinzidenz: sowohl bei Ken Bruen wie bei Val McDermid kommen ihre jeweiligen Protagonisten mit Charles Willeford und James Sallis in Berührung. Die Guten wissen warum.
Ken Bruen, GRIOT Hörbuch Verlag
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