Ausradiert

  • Knaur
  • Erschienen: Januar 2010
  • 1
  • New York: William Morrow, 2005, Titel: 'Oblivion', Seiten: 337, Originalsprache
  • München: Knaur, 2010, Seiten: 446, Übersetzt: Frauke Czwikla
Ausradiert
Ausradiert
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Jochen König
91°1001

Krimi-Couch Rezension vonJul 2010

...And You Will Know Us by the Trail of Dead

Nick Petrov ist groß, kräftig, gutaussehend. Ex-Polizist und Ex-Boxer arbeitet er mittlerweile als Privatdetektiv. Natürlich erfolgreich. Er ist der Cop, der den Serienkiller Gerald Reasoner überführte und über den dieser Film gedreht wurde, in dem Armand Assante (hat immerhin schon Mike Hammer gegeben. In einem gerne unterschätzen, kleinen Meisterstück) seine Rolle übernahm. Als Reasoner wurde Dennis Franz besetzt – Petrov hätte lieber den ursprünglich dafür vorgesehenen Donald Sutherland gehabt –, während Kim Delaney seine ehemalige Partnerin und Geliebte Elaine Kostelnik, inzwischen zur Polizeichefin aufgestiegen, spielte.

Im Großen und Ganzen läuft es rund für Nick Petrov. Bis Liza Rummel ihn beauftragt, ihre sechzehnjährige Adoptiv-Tochter (und leibliche Nichte) Amanda zu suchen. Kein Problem für den gewieften Ermittler – wenn da nicht dieser centgroße Schmerzpunkt hinter seiner Stirn wäre. Er beginnt sich merkwürdig zu benehmen, denkt an Dinge, die weit in seiner Vergangenheit eine Rolle spielten, besucht seine Ex-Frau samt Lebensgefährten und gemeinsamen Sohn aus heiterem Himmel und gibt kryptische Weisheiten von sich.

Schließlich findet er Amanda (oder vielleicht auch nicht). Doch bevor er sie ihrer Mutter übergeben kann, landet er mit einer Hirnblutung im Krankenhaus. Eigentlich schlimm genug, erwischt es Nick noch bitterer: Ursache der geplatzten Arterie ist ein walnussgroßer Tumor, der dringend behandelt werden muss. Doch bevor es soweit ist, muss Nick seinen Fall lösen, der plötzlich zu etwas ganz besonderem wird. Denn Amanda ist die leibliche Tochter von Lara Deems, Gerald Reasoners mutmaßlichem letzten Opfer.

Leider kann sich Nick an das gesamte Wochenende vor seinem Zusammenbruch nicht mehr erinnern und somit auch nicht an seine Ermittlungen. So klappert er, körperlich gehandicapt, alle Wege noch einmal ab, begegnet Unverständnis und Freundlichkeit, Gewalt und Zuneigung. Und merkt, dass in seinem Leben wohl doch nicht alles so glatt verlief, wie er dachte. Die Suche nach Amanda wird zu einer Suche nach sich selbst. Denn immer mehr Indizien weisen darauf hin, dass Reasoner keineswegs der Mörder von Lara Deems ist. Ein anderer gerät in Nicks Focus – und zwar er selbst.

Ausradiert ist die Überraschung des Monats. Ein unscheinbares Buch, eher beiläufig präsentiert, entpuppt sich als einer der innovativsten Hardboiled-Romane der letzten Jahre. Zwar erklärt Stephen King Peter Abrahams zu seinem Lieblingsautoren, doch war sein verschwenderischer Enthusiasmus bislang eher Abschreckung als Leseanreiz. Mit Ausradiert hat er dessen ungeachtet völlig richtig geurteilt.

Abrahams etabliert seinen Nick Petrov als typischen, zynischen und von sich selbst überzeugten Detekiv. Nicht unsympathisch und mit kleinen Macken und Verlustängsten versehen, doch etwas zu großkotzig um wahr zu sein. Dann verliert er den Boden unter den Füßen, sieht seine Realität, sein ganzes Leben verschwimmen und gewinnt so eine Klarsicht, die ihm vorher fehlte. Aus dem Erfolgstyp Petrov wird der unsichere Nick, dem seine rechte Körperhälfte nicht gehorcht, und der sein Leben in Windeseile in den Griff bekommen muss, da der grimmige Schnitter ihn fest im Visier hat, und es noch einige Fragen gibt, die dringend einer Antwort bedürfen.

Diese Phasen zwischen komatösem Stillstand und der Sehnsucht nach Hochgeschwindigkeit beschreibt Abrahams mit ergreifender Finesse. Selbst vorgebliche Schwachpunkte, wie die explodierende Liebschaft mit der dunkelhäutigen Krankenschwester Billie, die für Nick in einer Hochzeit enden soll, erhalten so Tiefe. Der überraschende Heiratsantrag am Telefon ist natürlich dem lauernden Tod geschuldet, der Nick geradezu zwingt, so ehrlich und konsequent zu handeln wie es nur möglich ist. Dass Billie das Angebot (fast) ohne Umschweife annimmt, ist ein deutlicher Fingerzeig, wie nah die melancholische, scheinbar abgebrühte Hardboiled-Literatur am Märchen angesiedelt ist.

Doch vorerst muss die Hochzeit warten, denn nichts geht über Nicks oberste Prämisse, Amanda und damit einige Wahrheiten über sich selbst zu finden. Abrahams großer Verdienst ist es, dass das verzweifelte Rühren in Nicks Vergangenheit niemals larmoyant ist; er zudem das Geschick besitzt aus der Redundanz – eigentlich wiederholt sich die Ermittlung in den Augen des Lesers nur – Spannung und den Wunsch nach mehr Wissen zu ziehen. So bleibt man aufmerksam an Nicks vorsichtigem Tapsen in ein neues Leben und andere Erfahrungshorizonte kleben, sogar als längst dämmert, wer der Drahtzieher hinter den halluzinatorischen und tödlichen Ereignissen ist.

Ausradiert hat die Unsicherheit als Prinzip gewählt, zwar nicht ganz so radikal wie in Christopherr Nolans Film "Memento", in dem Guy Pearce jeden seiner rückläufigen Schritte schriftlich erfasste, und trotzdem Spielball einer steuernden Macht blieb. Nick Petrov behält in seiner Verzweiflung einen Rest von Einsicht, die seine Person letztlich zu dem werden lässt, was er am Anfang glaubte zu sein: ein integrer Verteidiger der Gerechtigkeit.

 

"Lass uns Pläne schmieden", sagte Billie.
Die letzte Kerze verlöschte zischend.
"Morgen früh die Bestrahlung", erwiderte Nick. "Danach bin ich für alles offen."

 

Das Ende eines großartigen Buchs.

Ausradiert

Peter Abrahams, Knaur

Ausradiert

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