Die goldene Meile
- Bertelsmann
- Erschienen: Januar 2010
- 3
- München: Bertelsmann, 2010, Seiten: 255, Übersetzt: Rainer Schmidt
- München: Goldmann, 2011, Seiten: 255
Wunderland ist abgebrannt
Dass die russische Demokratie ein Politikum eigener Art ist, weiß man nicht erst seit Putin. Dass sie unter ihm begann, ihre eigenen Kinder zu fressen, die Milliardäre der ersten Stunde zu entmachten, um ihr Vermögen zu bringen, um eigene Statthalter zu installieren, beschreibt Cruz Smith in der Nebenfigur des Sascha Waksberg, der Geld für obdachlose Kinder sammelt und zu dessen vormals rentablen Casinos er zwar noch die Schlüssel besitzt, die jedoch ihre Türen nicht mehr öffnen dürfen. Dem Besitzer wurde gar der Pass abgenommen. Er wird ein Happy End erleben, andere nicht.
Ganz davon zu schweigen, dass Arkadi Kyrilowitsch Renko nicht nur mit dem Verbrechen seine Last hat, auch seine Vorgesetzten machen ihm weiterhin das Leben so schwer wie möglich. Sein Gegenspieler Staatsanwalt Surin scheint in Die goldene Meile, endlich am Ziel angelangt zu sein. Renko soll nicht nur vom Dienst suspendiert, er soll gar daraus entfernt werden. Was den Ermittler nicht kratzt, solange er unter dem Deckmantel des alkoholkranken Kollegen Viktor Nachforschungen anstellen kann.
Zu Anfang verschwindet ein Baby in einem Zug, fällt die blutjunge Zwangsprostituierte Maja auf dem ältesten aller Tricks herein. Ein Soldat bedrängt sie und eine Retterin verpasst ihr K.O.-Tropfen, um anschließend mitsamt dem Kind, ihrer Verkleidung entledigt, in der Masse auf dem Bahnsteig unterzutauchen. Das Kind soll verkauft werden. Ausgerechnet an einen General. Als dessen Ehefrau allerdings das Geschrei nicht aushält, wird es einfach wieder abgestoßen. So begibt sich das Baby auf eine Odyssee durch die Schattenwelt Moskaus.
Renko stößt derweil auf eine übel zugerichtete Tote in einem Bauwagen, die ihn auf die Spur eines Serienkillers bringt. Beide Erzählstränge münden in "den drei Bahnhöfen", einer Art Gegenwelt zu der dem Roman den Titel verleihenden Goldenen Meile.
Dies war nicht mehr Arkadis Moskau. Die Goldene Meile die Gegend zwischen Kreml und Erlöserkirche war früher ein Viertel für Arbeiter, Studenten und Künstler gewesen. Die Restaurants waren Stehimbisse gewesen, in denen man gedünsteten Kohl bekommen hatte, und die Straße hatte von Glasscherben gefunkelt, nicht von Diamanten. ... Die Leute, die hier gelebt hatten, waren verschwunden. Ausbezahlt, abverkauft, hinaus-"entwickelt", hatte man sie an den Stadtrand umgesiedelt und ersetzt durch Boutiquen und langbeinige Frauen mit Prada-Handtaschen...
Nicht wenige von ihnen stranden - wenn schon nicht persönlich dann in der nächsten Generation - in "den drei Bahnhöfen", fristen ihr Leben, indem sie ihren Körper verkaufen, stehlen, betrügen und morden.
Im Gegensatz zu seinen sonst umfangreicheren Thrillern ist Martin Cruz Smith mit Die goldene Meile ein Konzentrat gelungen. Das Leben seiner Unterschichtenhelden wirkt nüchtern, wie aus einer Dokumentation herausgeschnitten. Gewalt vom Missbrauch über Folterung bis zum Mord erscheint unausweichlich, folgerichtig. Was ist ein Menschenleben wert, wenn niemand wie ein Mensch leben darf?
In der Figur des Arkadi Renko hat Cruz Smith keinen depressiven Chefinspektor erschaffen, der sein Innenleben vor sich herträgt. Renko nimmt den Leser mit, als besäße er heimlich eine Kamera in der Tasche. Um so mehr erschrecken die Schwarzweißbilder einer russischen Gesellschaft, der nicht das Ende droht, die vielmehr längst über den Tellerrand gerutscht ist, um inmitten balzender Allmachtsgedanken festzustellen, dass jeder irgendwie ermordet werden kann.
Schonungslos beschreibt der Autor wie Frauen, Mädchen, Kinder in diesem Land auf der Suche nach einem rettenden Unterschlupf, einem Beschützer sind, während sich zumeist ein Mann an ihre Fersen heftet, der sich ein Geschäft von ihnen verspricht. Selbst die Frauen Haute-Volée an der Seite ihrer Egomanen sollen hart um ihre Ehen kämpfen müssen. Trotz Prada.
Maja weiß nicht einmal, wer der Vater ihres Babys ist, aber sie kämpft mit allen Mittel darum, es zu finden. Es existiert also selbst im menschlichen Müll Hoffnung, dass die Menschheit sich selbst nicht zuwider ist.
Alles ist in diesem Russland allzu leicht ersetzbar. Arkadi Renko ist der Chronist und sammelt die Leichen ein.
Martin Cruz Smith, Bertelsmann
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