Kalte Stille
- Bastei Lübbe
- Erschienen: Januar 2010
- 15
- Köln: Bastei Lübbe, 2010, Seiten: 6, Übersetzt: David Nathan
- München: Heyne, 2012, Seiten: 448, Originalsprache
Abgründe der menschlichen Seele
Steigerung beim zweiten Roman
Man sagt Psychologen und vor allem Psychiatern gerne nach, sie hätten diese Fächer nur studiert, weil sie selbst psychische Probleme haben. Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall scheint es hilfreich zu sein, als Insider Einblick in den Klinikalltag zu bekommen, wenn man einen Psychothriller über die krude Gedankenwelt von Geisteskranken und die Verhältnisse in geschlossenen Abteilungen schreiben will. Wulf Dorn erfüllt als langjähriger Mitarbeiter einer psychiatrischen Klinik diese Voraussetzung, und nachdem sein Debüt-Roman Trigger schon ein echter Treffer war, gelingt ihm mit Kalte Stille noch mal eine Steigerung.
Nächtliche Alpträume
Der Psychiater Jan Forstner leidet seit 23 Jahren unter dem mysteriösen Verschwinden seines damals 6-jährigen Bruders Sven. Jan war mittenin der Nacht in den Stadtpark gegangen, um dort die Geisterstimme eines verstorbenen Mädchens aufzunehmen – er hatte in einem Buch davon gelesen. Um zu urinieren, geht er kurz ins Dickicht, und bei seiner Rückkehr ist sein kleiner Bruder verschwunden. Nur das Diktiergerät, das die beiden Jungen bei sich hatten, steht noch auf der Bank. Darauf ist Svens Stimme zu hören, die in plötzlicher Stille endet. Seither kann Jan keine Stille mehr ertragen, und wird von nächtlichen Alpträumen geplagt.
Menschliche Abgründe
Ein weiteres Rätsel ist der tödliche Verkehrsunfall seines Vaters, der in jener Nacht wegen eines Telefonanrufs mit unbekanntem Ziel aufgebrochen war. Nach einer schweren Krise – er hatte bei einem Therapiegespräch einen Sexualstraftäter angegriffen - erhält Jan die Chance für einen beruflichen Neuanfang in der Klinik seines Heimatortes. Der Chefarzt war mit seinem Vater befreundet, und will dem jungen Arzt eine zweite Chance geben. Kurz nach seiner Rückkehr in die Heimat wird Jan mit einem mysteriösen Selbstmord konfrontiert, eine junge Frau stirbt in seinen Armen. Gemeinsam mit der Journalistin Carla Weller und dem Freund der Toten kommt er einem Geheimnis auf die Spur, das sich offenbar seit vielen Jahren hinter den Mauern des örtlichen Irrenhauses verbirgt. Ein Geheimnis, das Jan ungewollt zurück in seine persönliche Vergangenheit und auf die Spur des skrupellosen Täters führt. In einem furiosen und höchst überraschenden Finale werden viele lose Fäden zusammengeführt. Bis dahin wird der Leser bei sich steigernder Spannung durch zahlreiche menschliche Abgründe geführt und lernt am Rande die gnadenlose Soziographie einer Kleinstadt kennen.
Leiden schafft Faszination
Kann das Verschwinden eines Bruders und der ungeklärte Tod des Vaters den weiteren Lebensweg eines Menschen so vollständig prägen? Offenbar schon. Zumindest klingt die Schilderung bei Wulf Dorn absolut glaubwürdig. Mit Jan Forstner präsentiert der Autor eine Hauptfigur, die den Leser in ihr Innerstes blicken lässt. Und es ist nicht immer angenehm, was es da zu sehen gibt. Die Figur des jungen Psychiaters mit seiner geradezu krankhaften Suche nach Erklärungen für die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit wirkt absolut glaubwürdig – geradezu erschreckend authentisch. Der Leser leidet mit, wenn er sich denn von den Schilderungen berühren lässt. Und er hofft mit Jan irgendwie auf positive Erkenntnisse und Lösungen. Mitleid und Mitgefühl kommen da auf, aber nicht nur mit Jan Forstner. Auch andere Figuren müssen herbe Schicksalsschläge einstecken, die Geschichte strotzt geradezu davon. Das macht aber auch einen Grossteil der Faszination des Buches aus.
Starker Tobak sorgt für Spannung
Wenn ein Roman-Autor seine Protagonisten leiden lässt, ist das immer ein schwieriges Unterfangen. Denn es gilt einen schmalen Grad zwischen Übertreibung und Glaubwürdigkeit nicht zu überschreiten. Zuweilen ist man geneigt, etwas die Stirn zu runzeln, aber Wulf Dorn schafft es immer wieder, die Kurve zu einer nachvollziehbaren Fortsetzung zu bekommen. Die vorgeführten Morde und Suizide sind starker Tobak, aber dadurch wird die Spannungskurve fast schon unerträglich hoch gehalten. Und der Leser ist vor allem nie vor neuen Wendungen und Überraschungen sicher. Neben den interessanten Charakteren sind die subtil eingestreuten falschen Spuren eine der großen Stärken des Autors. Wer zur Mitte des Buches glaubt, den Bösewicht zu kennen, erlebt später eine absolute Überraschung. Ich habe immer geglaubt, 100 Grad kann man für ein Buch eigentlich nicht vergeben. Wulf Dorn hat mich eines Besseren belehrt - und ich freue mich jetzt schon auf seinen nächsten Thriller.
Wulf Dorn, Bastei Lübbe
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