Blinde Flecken

  • dtv
  • Erschienen: Januar 2010
  • 3
  • München: dtv, 2010, Seiten: 250, Originalsprache
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Thorsten Sauer
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2010

Solider und engagierter aber wenig differenzierter Krimi

München, das ist die charmante Mischung aus Tradition und Moderne, die sich schon in der Stadtplanung widerspiegelt und die sich in den modernen Wahrzeichen der Stadt wie der Allianz-Arena ebenso zeigt, wie in den alten Wahrzeichen der Stadt. Orte der Begegnung und des kulturellen Austauschs. So zumindest beschreibt es das Münchner Tourismusamt und fast jeder, der München kennt, wird es mehr oder weniger bestätigen, doch Peter Probst beschreibt in seinem neuen Roman Blinde Flecken ein zweites, schmutzig-braunes Gesicht der lebensfrohen Landeshauptstadt. Ein fremdenfeindlicher Sumpf aus einem elitären, antisemitischen Netzwerk, das zwar im verborgenen agiert, durch geschickten Einsatz von Vertuschung und Einflussnahme aber nicht wenig effektiv Einfluss auf das öffentliche Leben nimmt.

Chronik einer menschlichen Zeitbombe

Tim Burger sitzt wegen einer tödlichen Amokfahrt im Gefängnis. Er war mit dem Geländewagen seiner Mutter in eine Gruppe Jugendlicher gerast. Ein Toter, zwei Schwerverletzte und sechs Jahre Jugendstrafe für Tim, für die durch eine "schwere Lebenskrise" ausgelöste "blindwütige" Tat. Die Einschätzung des Richters scheint sich zu bestätigen, Tim Burger zeigt sich vorbildlich im Vollzug und arbeitet intensiv mit seinem Gefängnispsychologen auf eine vorzeitige Entlassung hin. Der Rechtsanwalt Loewi glaubt jedoch an einen antisemitischen Hintergrund, mehr noch, er sieht Tim Burger als Werkzeug eines antisemitischen Netzwerks und er fürchtet, dass die Amokfahrt nicht die letzte Tat des Jungen bleibt.

Loewi beauftragt den Privatermittler Anton Schwarz die Hintergründe um die Amokfahrt auszuleuchten und das Umfeld um Tim unter die Lupe zu nehmen. Hat sich Tim Burger im Gefängnis in eine tickende Zeitbombe verwandelt und gibt es außerhalb der Vollzugsanstalt tatsächlich einflussreiche Kräfte, die seine vorzeitige Entlassung erwirken können, um ihn für die eigenen politischen Zwecke zu missbrauchen? Die Ermittlungen führen Schwarz tief hinein in einen Sumpf aus Fremdenhass, Antisemitismus und alten Seilschaften.

Blinde Flecken – kollektive Gedächtnislücken

Der Titel des Romans beschreibt weniger den Inhalt, als vielmehr das Thema: Gibt es so etwas wie kollektive Gedächtnislücken bei der Beurteilung von Straftaten mit – möglicherweise – antisemitischem Hintergrund? Der Autor selbst gibt die Antwort gleich zu Beginn des Buches mit einem Beispiel, das er - nur wenig entfremdet – direkt aus der Realität entnimmt: Der Münchner Politiker Carl Heuwieser rammt im angetrunkenen Zustand einen Wagen mit hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn. Der Unfallgegner, ein Überlebender des KZ Dachau, stirbt und Heuwieser kommt mit einer lächerlich geringen Strafe davon, kann sogar seine Karriere fortsetzen. Der im Roman geschilderte Vorfall entspricht fast eins zu eins den realen Ereignissen aus dem Jahre 1983 um den Politiker Otto Wiesheu, der sich in der Gerichtsverhandlung frei von Gewissensbissen zeigte und sich getreu seines legendären Credos: "Mir san Hund - die andern san a Hund - aber mir san die größeren Hund" fast straffrei aus der Affäre zog und seine politische Karriere fortsetzte.

So verwerflich das Abstreiten der Schuld und das Fahren unter Alkoholeinfluss sind, so heikel sind Probsts Schlüsse auf die jüdische Identität des Opfers und mögliche antisemitische Einflüsse bei der Beurteilung der Schuld. Die abschließende Bewertung bleibt im Roman nebulös, doch die These der "blinden Flecken" wird zum Motiv für den Plot.

So couragiert sich Probst in seinem neuen Roman für sein Thema einsetzt, so konsequent verzichtet er auf Zwischentöne. In seiner Romanwelt gibt es nur die Guten, die Bösen und die Opfer. Der Roman leidet darunter in zweifacher Hinsicht: Zum einen leidet die Spannung, weil die Geschichte weitgehend ohne überraschende Wendungen auf den unvermeidlichen Höhepunkt zusteuert. Zum anderen hätte dem Thema – auch in einem Krimi – eine differenziertere Betrachtungsweise gut getan. Das beschriebene Netzwerk der Neonazis wirkt ein wenig zu krakenhaft, als ob halb München durchsetzt ist von einflussreichen Altnazis, labilen Jugendlichen und gewissenlosen Karrierepolitikern des rechten Spektrums. Tim Burger ist auf jeder Seite des Buches der verlorene, durch und durch böse Jugendliche, für den es weder Abkehr vom Irrweg noch sonst eine Rettung geben kann. Da haben andere Autoren schon vielschichtigere Psychogramme zum Thema abgeliefert.

Angenehm ist dagegen, dass sich Probst nicht in Geschwätzigkeit verliert, auf jeder Seite die Geschichte vorantreibt und mit Anton Schwarz einen interessanten Protagonisten für eine – vom Verlag im Klappentext sachte angedeutete – Serie geschaffen hat. Bei Schwarz gelingt es Probst denn auch ein eindrucksvolleres Bild zu zeichnen, um zu zeigen, wie nahe blinde Flecken und Selbstverleugnung zusammen liegen und wie sehr sie die eigene Vergangenheit der Hauptfigur berühren.

Es ist sicherlich schwierig auf 250 Seiten einen vielschichtigen Roman über die rechtsradikale Subkultur in München zu schreiben, zumal die gute Grundidee etwas mehr Raum zur Entfaltung verdient hätte, doch letztlich gelingt Probst dieses Vorhaben. Blinde Flecken ist lesenswert und gute, anspruchsvolle Unterhaltung.

Blinde Flecken

Peter Probst, dtv

Blinde Flecken

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