Neuropath
- Heyne
- Erschienen: Januar 2010
- 2
- London: Orion, 2008, Titel: 'Neuropath', Originalsprache
- New York: Orion, 2009, Titel: 'Neuropath', Seiten: 316, Originalsprache
- München: Heyne, 2010, Titel: 'Neuropath', Seiten: 447, Übersetzt: Jürgen Bürger
Killer mit philosophischer Vor- und Einbildung
Als Studenten der Psychologie waren sie nicht nur Kommilitonen und Zimmergenossen, sondern auch beste Freunde. Auch nach vielen Jahren haben Thomas Bible und Neil Cassidy den Kontakt aufrechterhalten. Der eine doziert an der Columbia University in New York City, der andere arbeitet in einem Krankenhaus.
Doch Cassidy hat seinen Freund belogen. Er war sogar dazu verpflichtet, denn er hat sich von der Nationalen Sicherheitsbehörde (NSA) anwerben lassen. Seit dem Anschlag auf die Twin Towers 2001 und im Zuge des "Krieges gegen den Terrorismus" wurden in den USA die gesetzlich garantierten Menschenrechte immer stärker aufgeweicht. Cassidy beschäftigte sich mit der Manipulation des Gehirns. Im Rahmen streng geheimer Operationen und Experimente sollten mutmaßliche Verschwörer nicht nur zum Reden gebracht werden. In einem nächsten Schritt wollte man sie geistig quasi ferngesteuert gegen die eigenen Leute einsetzen.
Irgendwann kam Cassidy zu dem Schluss, dass die Realität vom menschlichen Hirn nur verzerrt dargestellt wird. Er ging in den Untergrund und begann, Männer und Frauen zu kidnappen, um mit bizarren und grausamen Versuchen die ´Fehlfunktionen´ des Gehirns zu entlarven. Das FBI jagt Cassidy, den "Neuropathen", für den Gesetze oder moralische Normen Fiktionen in einer Welt der Illusionen sind. Die Agenten holen Thomas Bible als Berater in ihr Team. Nur er kann wenigstens ansatzweise erfassen, wie Cassidy ´tickt´. Trotzdem unterschätzt er den Wahn des Freundes. Für Cassidy wird er zum idealen Versuchsobjekt. Dieses ´Experiment´ geht er anders an: Cassidy kidnappt Bibles vierjährigen Sohn und treibt den Vater, der zu Recht Entsetzliches befürchten muss, schier in den Wahnsinn …
Auf der Suche nach neuen Schrecken
Genialität und Größenwahn kennzeichnen in der Regel den charismatischen Serienkiller. Intelligent oder wenigstens schlau sollte er sein, um die Polizei und andere Verfolger einige hundert Buchseiten oder 90 bis 120 Filmminuten ins Leere laufen zu lassen bzw. in Atem halten zu können. Der Wahn ist wichtig, weil er ihn (oder sie) zu Übeltaten anstachelt, die den lesenden oder zuschauenden Zeitgenossen unterhaltsam erschauern lassen, der über den Spaß am profanen Kopfschuss längst hinausgewachsen ist.
Sich in dieser Hinsicht Neues einfallen zu lassen, ist nach einer wahren Schwemme irrwitziger Mörder zur echten Herausforderung geworden. Längst sind die Grenzen zum Horror weit überschritten, und der Realitätsbezug schmolz zur Behauptung zusammen. Möglichst bizarr muss gemetzelt werden, was freilich die Gefahr der Lächerlichkeit in sich birgt, da die blutreichen Gräuel oft einem monumentalen ´Plan´ folgen, der ebenso kompliziert wie unsinnig ist. Wahnsinn bietet da keine Entschuldigung.
Scott Bakker überrascht zunächst mit gleich zwei mordlüsternen Killern. (Er scheint jedenfalls anzunehmen, er könne seinen Lesern weismachen, beide Mordserien hätten nichts miteinander zu tun. Dies offenzulegen werte ich nicht als Spoiler, da sich der Autor gar zu ungeschickt anstellt.) Da haben wir den "Chiropraktiker", der seinen Opfern die Wirbelsäulen entfernt, die er anschließend beispielsweise in die Briefkästen ahnungsloser Mitbürger wirft.
Und es gibt Neil Cassidy, den selbsternannten, übergeschnappten Übermenschen, der mit seinem Treiben gleich mehrere Teilbereiche der Natur- und Geisteswissenschaften trivialisiert, an deren Spitze Psychologie und Philosophie stehen. Wie er Cassidy in beiden Feldern verwurzeln konnte, macht Bakker offensichtlich sehr stolz, denn er verwendet vor allem in der ersten Romanhälfte viele, viele Seiten darauf, uns die Ergebnisse entsprechender Recherchen nahezubringen.
Ich denke, aber bin ich?
Sind wir denn so begriffsstutzig? Wollen wir es so genau wissen? Auf sein FBI-Publikum – es vertritt die Leser – redet Professor Bible jedenfalls so intensiv ein, bis es nur noch Bahnhof versteht. Bakker nutzt dabei den Respekt (oder die Abscheu) des ´normalen´ Lesers vor den Erkenntnissen der Philosophie. Deren Repräsentanten machen sich schwere Gedanken über das Wesen der Welt. Dabei kommen sie zu Ergebnissen, die manchmal kurios und vor allem schwer nachvollziehbar sind.
Die Theorie, dass die Realität des Menschen nicht der Realität entspricht, sondern eine durch das Gehirn gefilterte Interpretation darstellt, ist in der Philosophie schon alt. Die moderne medizinische Forschung ergänzte dieses Denkmodell durch das Bild des Gehirns als biologische Maschine, die ausschließlich auf äußere Reize reagiert, während der Mensch für das Gros seiner Gedanken und Handlungen fälschlich einen "freien Willen" reklamiert. Dies ist wie gesagt ein Bild, das aber leicht verständlich ist und sich – beispielsweise für einen Thriller – instrumentalisieren lässt. Aus einem Potpourri mehr oder weniger nihilistischer Weltmodelle und kombiniert mit in den Plot eingerührten medizinischen Einsichten konstruiert Bakker den "Neuropathen": einen Soziopathen, der wahnhaft unfähig ist, seinen neurologischen ´Erkenntnissen´ KEINE Taten folgen zu lassen.
Eigentlich bleibt alles beim Alten
Dieser Bösewicht stellt bei nüchterner Betrachtung nur den sprichwörtlichen Kaiser in neuen Kleidern dar. So verwirrend ist das Konzept der Neuropathie nicht. Originell ist es ebenfalls nicht. Bakker bemüht sich, es originell klingen zu lassen – als Autor mit dem Auftrag, seine Leser zu unterhalten, ist dies legitim –, es gelingt jedoch nur bedingt.
In der Neuropathen-Wundertüte geht es erstaunlich geordnet zu. Bakker entwirft einen Roman mit konventionellem Handlungsablauf und entsprechenden Figuren. Dies allein ist ihm nicht zum Vorwurf zu machen, denn das Prinzip – Gut & Böse verfolgen einander bis zur finalen Konfrontation – ist ein funktionsbewährter Klassiker. Der Verfasser mag sich indes nicht auf die ´reine´ Form verlassen. Er verschneidet seinen Plot mit Seifenoper-Elementen. Folgerichtig gibt es eine Liebesgeschichte, ein guter Hund kommt zu Tode, und kleine Kinder geraten in Lebensgefahr.
Diese Aufzählung ist nur zum Teil ironisch. Bakker arbeitet oft mit Klischees, denen er nichts Neues abzuringen weiß. Solche Zwischenmenschlichkeiten werden der Handlung eingefügt, weil bestimmte Lesergruppen sie erwarten. Wen wundert’s, dass diese Passagen jene Begeisterung vermissen lassen, mit der sich Bakker dem Neuropathen-Erzählstrang widmet, der ihn spürbar stärker interessiert hat?
Yin und Yang des Bewusstseins
In einem Nachwort erläutert Scott Bakker, dass er sich für seinen Roman realer wissenschaftlicher Erkenntnisse bediente, die er verfremdete und dramatisch übersteigerte, wo es den Plot beflügeln konnte: "Was früher allein die abstrakten Befürchtungen von Philosophen gewesen sind, hat Fleisch und Knochen bekommen." (S. 447) Nachdem er dies deutlich gemacht hat (und obwohl er die Seifenoper weiterspielt), lotet Bakker die Möglichkeiten der Hirnmanipulation einerseits durchaus gruselig und konsequent aus.
Andererseits führt er mit dieser Konsequenz die Handlung direkt in eine Sackgasse. Die finale Erkenntnis des neuropathischen Denkens erfährt Bible nur, wenn er sich seinem Feind mit Haut & Haaren bzw. Hirn ausliefert. Dass es darauf hinauslaufen wird, wird dem Leser sehr früh klar. Bakker versucht kurz zuvor mit einer dramatischen Episode für Ablenkung zu sorgen, aber er fabriziert mit nur Stirnrunzeln mit dem plötzlich ins Geschehen eingeschobenen Subplot von den hirnmanipulierten Regierungsagenten, die moralbefreit Staatsfeinde jagen.
Als er mit Frankenstein Neils technischer Meisterschöpfung, der "Marionette", verdrahtet und hilflos daliegt, bleibt Bible nur, mit seinem Peiniger die üblichen Debatten zu führen: Während Neil im Gotteswahn kryptisch faselt, klammert sich Bible an uramerikanische Moral- und Familienwerte. Da ihn Gerede nicht aus der Bredouille bringt, greift Bakker schließlich auf die schlechteste aller möglichen Lösungen zurück und lässt einen "deus ex machina" die Rettung weniger bringen als übers Knie brechen.
Vom pseudofachlichen und modischen Beiwerk befreit kann "Neuropath" als Thriller nur bedingt überzeugen, geschweige denn unterhalten. Zu viel Gerede, zu viele Klischees können auch durch Science-Fiction-Elemente und schlechte Action-Einlagen nicht ausgeglichen werden. "Neuropath" bleibt im interessanten Ansatz stecken. Weniger verfasserlicher Ehrgeiz und mehr schriftstellerisches Handwerk hätten dem Leser möglicherweise eine befriedigendere Lektüre beschert.
R. Scott Bakker, Heyne
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