Die letzte Wahrheit
- Heyne
- Erschienen: Januar 2010
- 3
- New York: Simon & Schuster, 2007, Titel: 'Who is Conrad Hirst?', Seiten: 227, Originalsprache
- München: Heyne, 2010, Seiten: 299, Übersetzt: Teja Schwaner
Wer ist Conrad Hirst?
Um heutzutage einen guten Kriminalroman aus der Masse der vielen Neuerscheinungen hervorheben zu können, bedarf es einer geschickten Werbung seitens des Verlags. Nicht selten wird mit Vorschußlorbeeren in Form von Zitaten anderer Autorenkollegen gearbeitet, um die Aufmerksamkeit eines eventuellen Lesers zu erregen. In die Riege dieser Buchtitel reiht sich nun auch Kevin Wignalls Die letzte Wahrheit (Who is Conrad Hirst?) ein. Diesmal sind Jeffery Deaver und Mark Billingham, beide bekannte Größen des Genres, voll des Lobes für den Roman des in Belgien geborenen Autors, welches zudem im Jahre 2008 für den Barry Award und, in der Kategorie "Best Paperback Original”, für den Edgar Award nominiert worden ist. Derart hohe Weihen suggerieren natürlich einen Knaller von Buch und führen dazu, dass man unwillkürlich auch andere Maßstäbe während der Lektüre anlegt. Doch kann Wignalls deutsches Debüt (auf Englisch bereits sein vierter Kriminalroman) dieser Erwartungshaltung gerecht werden? Der Klappentext hält sich ziemlich bedeckt und verrät wenig Inhaltliches, weshalb die Geschichte hier noch mal kurz angerissen sei:
Mitte der 90er Jahre in Zentraleuropa. In Jugoslawien tobt ein blutiger Bürgerkrieg, dessen Fronten durch ganze Familien laufen und die Grenzen zwischen gut und böse verschwimmen lassen. Das Elend ist überall sichtbar, für fast alle Beteiligten bedeutet dieser Konflikt Leid, Armut und Tod. Für den jungen Conrad Hirst jedoch, der nach dem tödlichen Unfall seiner Eltern das Studium geschmissen und die Welt bereist hat, ist Jugoslawien der spanische Bürgerkrieg seiner Generation. Gemeinsam mit seinem besten Freund Jason begibt er sich in das zerrüttete Land. Romantische Gefühle von Abenteuer und Heldentum hegend, streben die beiden danach, die neuen Hemingways und Capas zu werden. Am Kriegsschauplatz angekommen zerplatzen diese Träume so schnell wie Seifenblasen. Die Gräueltaten und Kriegsverbrechen holen sie brutal in die Wirklichkeit zurück und verrohen die beiden Freunde. Als Anneke, Conrads erste große Liebe, bei einem Bombenangriff stirbt, verliert dieser damit den letzten Halt. Verstört und traumatisiert schließt er sich einer marodierenden Milizeinheit an. Er tötet, foltert und gerät bald darauf in das Visier eines Söldners, der ihn aus Jugoslawien wegholt und zum Auftragskiller ausbildet.
Fast zehn Jahre später hat Conrad Hirst genug von seiner "Arbeit”. Sein letzter Auftrag, die Tötung eines greisen Mannes, öffnet ihm die Augen und lässt ihn zum ersten Mal nach langer Zeit wieder etwas fühlen. Er beschließt auszusteigen, kennt jedoch die Spielregeln seines Gewerbes. Neben seinem mysteriösen Auftraggeber, dem deutschen Verbrecherboss Julius Eberhardt, kennen drei weitere Personen seine Identität. Nur sie stehen zwischen ihm und der Möglichkeit des Vergessens. Also macht Conrad sich auf sie zu töten. … Eine einfache Aufgabe für den souveränen Profi, der jedoch bald feststellen muss, dass nichts um ihn herum so ist wie es scheint.
Bei wem jetzt sofort Erinnerungen an Jason Bourne hochkommen, der liegt mit diesem Vergleich gar nicht mal so falsch. Conrad Hirst hat zwar nicht sein Gedächtnis verloren, dafür aber jedes Gefühl, was ihn zu einem gefährlichen Fremdkörper innerhalb der Gesellschaft macht. Menschen sind für ihn vor langer Zeit zu einer Zielscheibe degradiert worden, die es nicht zu verstehen, sondern lediglich zu treffen gilt. Heimlichkeit, Lügen und Verrat sind unabdingbar für den Erfolg in seinem "Geschäft”. Und genau diese gefühlsmäßige Kälte spiegelt sich in der Sprache Kevin Wignalls wider. Mit Die letzte Wahrheit hat er einen Thriller zu Papier gebracht, der nicht einfach den Weg eines Killers nachzeichnet, sondern auch in Rückblicken dessen Werdegang und Ursprung skizzieren will. In Briefen schreibt Conrad Hirst an die längst verstorbene Anneke, berichtet ihr von seiner Absicht auszusteigen und vom Blut, das an seinen Händen klebt. Dadurch gewinnt das Buch eine Art von Innensicht, die anderen Vertretern dieses Genres sonst eher abgeht. Dennoch bleibt der sprachliche Stil knapp, kurz, aufs äußerste Minimum reduziert. Dialoge sind rar gesät. Sprechen tut in erster Linie Conrad Hirsts Waffe. Und damit kommt man zum ersten großen Kritikpunkt des Buches.
Mit einer schon erschreckenden Teilnahmslosigkeit und Taubheit lässt Wignall seinen "Helden” durch die Handlung morden, als gäbe es nichts Natürlicheres auf der Welt. In Bezug auf Conrad Hirst ist das ein geschickter Schachzug, nimmt er tatsächlich die Umwelt kaum noch richtig wahr. Wenn er allerdings mit dieser interagiert und andere Figuren ins Spiel kommen, gerät eine möglicherweise angestrebte Differenzierung ins Wanken, denn das Töten anderer Menschen scheint für nahezu jedermann und –frau eine Selbstverständlichkeit zu sein.
Auch wenn später Erklärungen für diese Haltung nachgereicht werden, führt der durchgängige gefühlskalte Habitus zu Brüchen in der eigentlich stringenten Handlung. Das schlicht unpassende Verhalten mancher Beteiligter raubt dem Plot einen Großteil seiner Glaubwürdigkeit und beißt sich mit dessen ernsthaftem Unterton. Denn von solchen Störungen abgesehen, liest sich Kevin Wignalls Thriller äußerst flüssig. Der Anfang kann mit stimmungsvollen Umgebungsbeschreibungen überzeugen (man fühlt sich unwillkürlich an Eric Ambler erinnert) und Hirsts’ Annahme, nur vier Personen seien zu eliminieren, erweist sich schon bald (damit verrate ich nicht zuviel) als äußerst falsch und leitet die Geschichte in eine sehr interessante, wenn auch ab einem gewissen Punkt ziemlich vorhersehbare, Richtung. Der Blick nach innen, den Wignall Hirst stets werfen lässt, nimmt allerdings in vielen Passagen das Tempo heraus. Zu oft grübelt der Killer, überdenkt seine Motivationen und den moralischen Standpunkt, um schlussendlich doch wieder die Waffe durchzuladen und abzufeuern.
Er wusste, dass es keinen Sinn ergab. Er wusste, dass es falsch war, aber so wenig, wie er jemals hatte morden wollen, und so neutral, wie er sich als Auftragsmörder stets verhalten hatte, so sehr wollte er jetzt den Mann töten, der ihn vor so vielen Jahren in einem Hotelzimmer in Mittenwald angeheuert hatte.
Er wusste nichts über ihn, kannte nicht einmal seinen Namen. Er wusste so wenig, dass er nicht begreifen konnte, warum sein Bedürfnis derart stark war. Aber töten wollte er ihn, keine Frage.
Kevin Wignall überreizt hier die Geschichte von der verlorenen Persönlichkeit. Und auch das viele Blut, das er Hirst verspritzen lässt, kann nicht die logischen Abgründe überdecken, welche besonders am mit Kitsch und Pathos überfrachteten Ende klaffen und die Handlung ins Lächerliche zu kippen drohen.
Insgesamt ist Die letzte Wahrheit ein kurzweiliges Thriller-Werk mit hohem Body Count, das beim Versuch Tiefsinnigkeit mit moralfreien Gewaltexzessen zu verbinden, im letzten Drittel Schiffbruch erleidet. Ein Buch für die Bahn- oder Busfahrt, das nach Beendigung der Lektüre wohl schnell wieder in Vergessenheit gerät.
Kevin Wignall, Heyne
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