Tote Mädchen lügen nicht
- Razorbill
- Erschienen: Januar 2007
- 92
- New York: Razorbill, 2007, Titel: 'Thirteen Reasons Why', Seiten: 288, Originalsprache
Kluges, spannendes und anrührendes Debüt
7 Kassetten mit 13 bespielten Seiten. 13 Menschen. "13 Gründe warum", so der Originaltitel von Jay Ashers Debüt. Als Clay Jensen ein Paket mit diesen Kassetten erhält, ahnt er nicht, dass sie sein Leben massiv beeinflussen werden. Zunächst braucht er aber ein Abspielgerät, selbst in amerikanischen Kleinstädten lebt man im digitalen Zeitalter, Kassettenrekorder sind Mangelware. Aber ein Walkman ist bald stibitzt, das perfekte Gerät, um die Kassetten zu hören. Denn beigefügt ist eine Karte, in der bestimmte Punkte markiert sind, denen Clay im Laufe einer langen Nacht eine kurze Visite abstattet.
Doch was verbirgt sich hinter diesen Aufnahmen? Was lässt Clay zweifeln, heulen, sich übergeben, vor Wut schäumen und verzweifelt lieben?
Es ist die Stimme eines toten Mädchens. Hannah Baker. Gestorben durch eine Überdosis Tabletten. Niemand weiß genaueres. Bis auf die 13 Empfänger jener Kassetten, denen Hannah jeweils eine Seite gewidmet hat und erzählt, warum sie sie für mitverantwortlich an ihrem Selbstmord hält.
Für Clay ein Schock, war er doch still verliebt in Hannah und hat keine Ahnung, was ihn mit ihrem Tod verbindet. Denn bis auf eine einzige Nacht waren sie sich zwar nahe, aber nie beisammen. Aber gerade jene Nacht soll sich als schicksalhafte erweisen.
Tote Mädchen lügen nicht" ist eines jener eher gefürchteten als geliebten "All Age"-Bücher, denen oft der Dünkel des "kleinsten gemeinsamen Nenners" anhaftet. Glücklicherweise hat das dem Erfolg des Buches nichts anhaben können. Jay Asher hat tatsächlich das seltene Kunststück geschafft, ein gleichzeitig kluges, spannendes und anrührendes Buch zu verfassen, das weder Jugendliche noch Erwachsene unterfordert.
Zunächst scheint alles klar zu sein: ein Mädchen begeht Selbstmord und erhebt via Tondokument postume Anklage gegen die Schuldigen an ihrem Tod. Das könnte eine einfache Geschichte sein, von Mobbing, Traumata und einschneidenden Erlebnissen, die zum Tod eines gepeinigten Jugendlichen führen.
Doch so einfach ist die Sachlage nicht. Denn selbst Hannah spricht nicht von "Schuldigen" sondern von "Mitverantwortlichen". Asher vermeidet platte Schwarzweißmalerei. Es gibt keine klaren Fronten, keine behauptete Zwangsläufigkeit und keinen erhobenen Zeigefinger. Eindeutige Schuldzuweisungen bleiben aus, weil das Leben selbst nicht eindeutig ist. Kleinigkeiten summieren sich; Signale, die falsch verstanden, ignoriert oder umgepflügt werden, und dann zu größeren Katastrophen führen. Wie jener tödliche Unfall, der im Off passiert, in dessen Resultat Clay allerdings direkt hinein gezogen wird. Hannah hingegen weiß um die vorherige, im Grunde geringfügige Ursache. Ein kleiner, betrunken verursachter Sachschaden, der große Wellen zieht. Hannah nimmt sich selbst nicht aus der Verantwortung, ist eine genau Beobachterin, die erkennt, was verkehrt läuft, aber selbst wenig dagegen ausrichtet, manchmal auch nicht ausrichten kann.
Was Clay zur Verzweiflung treibt; denn er fragt sich beständig während des Hörens, warum sie nicht zu ihm gekommen ist. An ihm sind sämtliche Gerüchte abgeperlt, er meinte es offensichtlich immer ehrlich mit Hannah. Mit der kleinen Einschränkung, dass er sich zurückzieht, wenn er eigentlich auf Hannah hätte zugehen müssen.
Ein raffinierter Kniff, denn eigentlich verhält Clay sich damit so, wie Hannah es sich von anderen Menschen wünscht. Dass man ihre Persönlichkeit respektiert, sie als sensible junge Frau wahrnimmt, die sich nach Nähe und Vertrauen sehnt und vor allem nach Offenheit und Freiräumen. Keine großartigen Wünsche, die aber seit Hannahs ersten Tagen in einer neuen Stadt unterminiert werden. Gerüchte, die sie als willfähriges Flittchen hinstellen, eine Wahl "zum geilsten Arsch der ersten Jahrgangsstufe", die sie aufs Körperliche reduziert.
Das ist alles nicht mal besonders bösartig, zeugt sogar auch von einem fehl geleiteten Respekt für das Objekt einer fernen und missverstandenen Begierde und Anschauung. Denn darum geht es: um die Visualisierung der Welt, in der erste Eindrücke, der bloße Schein, die Rolle definiert, die man in einer Gemeinschaft spielt. Hannah steigert sich in diese Vorstellung hinein, wird zum Fetisch, aber auch zur untätigen Beobachterin eines sexuellen Missbrauchs. Sie ist angewidert von einer Umwelt, in der Menschen sich nur um oberflächliche Belange kümmern, in der sich nicht um die Konsequenzen des eigenen Handelns gekümmert wird. Doch klar wird auch, dass Hannah bei ihrer verzweifelten Sicht auf das Versagen der Menschlichkeit, sich jenen entzieht, die ihr möglicherweise hätten helfen können. Sie schafft Distanz, bemitleidet sich lieber als aufzubegehren und nach wahren Freunden Ausschau zu halten. Denn die gibt es, verstehen sich aber genauso gut zu verstecken wie Hannah selbst. Stattdessen sucht sie die Nähe der Gedankenlosen, der Unfähigen und der Selbstsüchtigen. Dort findet sie die Bestätigung für die Düsternis, die sie umgibt. Sie wendet sich zwar offensiv an Erwachsene, ausgebildete Pädagogen, die kaum mehr als Worthülsen zu bieten haben.
So werden Hannahs wache Beobachtungsgabe und die niederschmetternden Schlüsse die sie daraus zieht, zu einer schleichenden und wachsenden Depression, einem leisen Selbstzerstörungstrip, an dessen Ende ihr Tod steht. Der für weitere Gerüchte sorgt.
Clay sieht sich den Kassetten erst hilflos gegenüber, dann wütend und am Ende lernend, dass es Auswege geben könnte. Er macht den ersten Schritt, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Es ist kein großer, wichtig ist, dass er getan wird.
Jay Asher spendiert uns kein Happy End, kein tränenüberströmtes oder gewalttätiges Finale (was beides möglich gewesen wäre), sondern ein wenig Hoffnung in der möglichsten aller Welten.
Zum Abschluss mal wieder (ein fast schon obligatorischer) Appell an die verlegerische Sorgfalt: Clay Jensen erhält keine 13 Kassetten, wie der Klappentext suggeriert. Eine Audiokassette hat zwei Seiten und Hannah Baker hat je eine Seite für ihre Mitmenschen reserviert. Das korrekte Berechnen der genauen Anzahl sollte schon in der Grundschule möglich sein. Ach ja, eine Seite bleibt frei...
Jay Asher, Razorbill
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