Treibeis

  • Knaur
  • Erschienen: Januar 2010
  • 2
  • New York: Random House, 2001, Titel: 'Ice Lake', Seiten: 353, Originalsprache
  • München: Knaur, 2010, Seiten: 560, Übersetzt: Friederike Levin
Treibeis
Treibeis
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Jochen König
91°1001

Krimi-Couch Rezension vonDez 2009

Der Tod und die Mädchen

Nach der Stadt aus Eis findet sich Émile Cinq-Mars ein Jahr später auf dem "Eissee" wieder. Die räumliche Komponente fehlt dem deutschen Verlagstitel und so heißt Ice Lake, der zweite Kriminalroman des Kanadiers John Farrow, auf Deutsch schlicht Treibeis.

Natürlich spielt das reale Phänomen des Treibeises keine Rolle in Farrows Buch. Es klingt halt gut, und im Eis eines zugefrorenen Sees in der Nähe Montreals treibt schließlich eine Leiche. Eigentlich hängt sie eher fest; was auch der Grund ist, warum Cinq-Mars und sein Kollege Billl Mathers so schnell auf den toten Andrew Stettler aufmerksam werden. Stettler, Gangmitglied und angeblich Sicherheitschef einer großen pharmazeutischen Firma, wurde erst angeschossen und anschließend ertränkt. Dass sein Tod mit der Firmentätigkeit zu tun hat, dämmert den Polzisten recht schnell. Obwohl der Fall eigentlich nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fällt, erklärt Cinq-Mars ihn zur persönlichen Chefsache. Vor allem nach dem ein Anschlag auf ihn und seine Frau verübt wird, beißt er sich hartnäckig fest. Und kommt groß angelegten, illegalen Menschenversuchen auf die Schliche, bei dem gutmeinende Menschen ideell und Aidskranke reell über die Klinge springen. Das bekommt die engagierte und etwas unbedarfte, indianische Aktivistin Lucy Gabriel schmerzhaft zu spüren. Zudem macht die Beteiligung einer der Gangs, die Montreal bereits im "Eishauch" fest im Griff hatten, die Ermittlungsarbeit nicht einfacher und wird sogar zur tödlichen Bedrohung für Cinq-Mars.

Mit Treibeis etabliert sich John Farrow als einer der originellsten Autoren des beginnenden Millenniums. Im Original bereits 2001 erschienen, wartet Ice Lake seitdem leider auf einen (lange angekündigten) Nachfolger.

Obwohl Émile Cinq-Mars und Bill Mathers sich als Serienfiguren weiter entwickeln, bleibt Farrow nicht stur an den ermittelnden Protagonisten kleben; er gibt seinen Nebenfiguren, allen voran Lucy Gabriel, viel Raum zu handeln und offenbart so den Lesern individuelle Beweggründe und die damit verbundenen Wirkungen, die manchmal unterschiedslos lassen werden, ob jemand aus Idealismus oder schnöder Gewinnsehnsucht handelt. Dafür bedient er sich einer Erzähltechnik, die nicht linear arbeitet, sondern durch die Zeiten springt. So verweigert er sich einer einförmigen Dramaturgie, die lediglich darauf ausgelegt ist, Morde zu präsentieren und den Täter zu identifizieren. Obwohl Treibeis mit Toten nicht geizt (an die 50), sogar einen mental derangierten Serienkiller aufzuweisen hat, entgeht Farrow der Gefahr, sein Buch zum voyeuristischen Spekulationsobjekt verkommen zu lassen. Vielmehr versucht Treibeis der Komplexität des modernen Lebens Rechnung zu tragen; Bedingungen und Auswirkungen aufzuzeigen, die weit über das privatisierte Verbrechen hinausweisen. Dabei spielt Farrow mit Klischees, bricht sie, löst sie auf derart entwaffnende Weise auf, dass man sich fragt, warum DA nicht eher jemand drauf gekommen ist? So bleiben selbst Ausflüge ins Pathos erquicklich, weil der Autor jederzeit weiß, wie weit er seine Beziehungsgeschichten treiben kann, ohne all die anderen Geschichten zu verraten.

Noch expliziter als sein Vorgänger führt Treibeis aus, wie tief Verbrechen in unserer Gesellschaft verankert ist. Erfolgsorientierte Skrupellosigkeit, das Streben nach Gewinnmaximierung lässt Grenzen und ethische Maßstäbe fallen; so treffen sich folternde Hells Angels und Geschäftsführer der Pharma-Industrie auf Augenhöhe. Es gibt keine moralischen Unterschiede, und etwas plakativ, aber nachvollziehbar und fast zwangsläufig machen sich die Nieten in Nadelstreifen selbst die Hände schmutzig. Das ist einer der seltenen Eingeständnisse ans Genre: Farrow bringt die Täter, die ansonsten im Dunkeln agieren, ins Wanken, macht sie dadurch, dass sie ihren Gefühlen und Abneigungen nachgeben, angreifbar. Während Émile Cinq-Mars Verständnis für die Idealisten dieser Welt aufbringt, selbst wenn sie als nützliche Idioten missbraucht werden, verfolgt er die skrupellosen Drahtzieher ohne Gnade, sogar wenn dies bedeutet, ein (zumindest theoretisches) Kurzzeitbündnis mit seinen Erzfeinden aus den Motorradgangs einzugehen.

Treibeis ist vielschichtig, komplex, ohne seine Komplexität wie ein Werbebanner vor sich her zu tragen. Trevor Ferguson alias John Farrow versteht sein Handwerk, ebenso wie seine Hauptfigur Émile Cinq-Mars, der als Polizist mit Gelassenheit und Übersicht agiert und noch besser als Spiegel funktioniert, in dem sich Gegenspieler und Mitstreiter reflektieren. Nur ein Teilaspekt in einem beeindruckenden und nachhaltig wirkenden Roman, der auch neun Jahre nach seiner Erstveröffentlichung beeindruckend aktuell ist. Farrow gelingt es, die Stärken seines Debüts auszubauen und die leichten Schwächen zu reduzieren. SO könnte es weiter gehen... doch wo bleibt Émile Cinq-Mars, der Dritte?

Treibeis

John Farrow, Knaur

Treibeis

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