Die Wahrheit des Alligators
- Lichtenberg
- Erschienen: Januar 1998
- 3
- Rom: e/o, 1995, Titel: 'La Verita dell´ alligatore', Seiten: 157, Originalsprache
- München: Lichtenberg, 1998, Seiten: 232, Übersetzt: Barbara Kleiner
- München: Droemer Knaur, 2000, Seiten: 231
Wie ein Comic-Strip aus der Unterwelt
"Peng - du bist tot!" (D. Duck)
Massimo Carlotto ist Marco Buratti, Buratti ist Carlotto. Beide haben in ihrem Leben etwas zu bewältigen: Carlotto mit diesem Buch; Buratti, genannt "der Alligator", mit Blues und Calvados, dem Cidre-Brand aus der Normandie.
Marco Buratti, der Hauptdarsteller, war noch Student und Sänger in der Blues-Band "Old Red Alligators" - daher sein Name - als er durch seine freizügige Art, Andere, auch Unbekannte, in seiner Wohnung übernachten zu lassen, an einen Frauenmörder geriet.
"Im Morgengrauen wurden wir festgenommen. Er sitzt noch immer, ich habe ihm sieben lange Jahre Gesellschaft geleistet. Um mit erheblich weniger davonzukommen, hätte ich bestimmte Protokolle unterschreiben und bestimmte Gesichter wiedererkennen müssen. Ich zog es vor zu schweigen."
Durch diese Verschwiegenheit wurde er im Gefängnis zu einer Respektsperson und mehrmals als Vermittler in Bandenkriegen herangezogen. Auch nach seiner Entlassung genoss er diesen guten Ruf und führte öfters kleine Ermittlungen für Anwälte durch, die Verbindungen zur Unterwelt brauchten. Als Privatdetektiv, ohne Lizenz.
Die Geschichte spielt in Padua und beginnt an einem Abend, an dem Buratti in einem Club ein Konzert mit Cooper Terry besucht. Dort spricht ihn die Anwältin Barbara Foscarini an. Sie möchte, dass er ihren Mandanten Alberto Magagnin findet. Dieser verbüßt eine Haftstrafe von 18 Jahren und ist derzeit Freigänger. Verhaftet wegen des Mordes an einer Frau aus der Nobelgesellschaft von Padua, die mit zahlreichen Messerstichen getötet wurde.
Buratti hört sich um und wird an Marietto Carraro verwiesen. Der verrät ihm sowohl den Namen von Magagnins Dealer als auch, dass der Freigänger öfters von einer Frau im Auto abgeholt wird. Carraro führt ihn zu dem Haus dieser Frau - Prof. Piera Belli, eine Lehrerin. Der Alligator steigt durch ein offenes Fenster in die Wohnung ein und findet ihre Leiche, blutend aus zahlreichen Messerstichen.
Für Buratti ist klar, dass Magagnin erneut zugeschlagen hat, und auf dieselbe Weise wie beim ersten Mord. Die Anwältin Foscarini hält das für unmöglich. Als sie aber erkennt, dass Prof. Piera Belli eine der Geschworenen in dem Schwurgericht war, das Magagnin verurteilt hat, ist das Motiv nur allzu ersichtlich. Doch da entdeckt Buratti im Protokoll der Spurensicherung am Tatort ein Detail, das ganz im Gegensatz zu seiner eigenen Beobachtung steht. Ihm fällt es wie Schuppen von den Augen: Magagnin wurde hereingelegt! Er sucht sich zur Verstärkung einen Partner - Benjamino Rossini, ein Freund aus Gefängniszeiten. Spezialist für Verhöre, Stratege in Bandenkriegen und Beschaffer illegaler Waffen. Eine Art Superman.
Gemeinsam stürzen sie sich in die Ermittlungen und begeben sich zunehmend auf gefährliches Terrain: Sado-Maso-Spielchen der Schickeria, Korruption, Justizmissbrauch, Prostitution, Erpressung, Mord. Bald sind auch Auftragskiller auf ihrer Spur...
Massimo Carlotto ist Marco Buratti, Buratti ist Carlotto.
Die Geschichte von Massimo Carlotto ist wahrscheinlich bekannt: Er wurde beschuldigt, eine Studentin durch zahlreiche Messerstiche ermordet zu haben und war jahrelang zu Unrecht inhaftiert. Im Gefängnis lernte er viele Leute aus der "Unterwelt" und das gesamte Milieu kennen. Dieses Buch ist sein erster Alligator-Roman und in groben Zügen eine autobiographische Geschichte. Ein Versuch, seine Vergangenheit zu bewältigen bzw. sein Verhalten zu rechtfertigen. Der Roman lebt tatsächlich in erster Linie von der Hauptfigur, der eindringlichen Schilderung des Verbrecher- und Drogenmilieus und dessen Vertreter, wobei einzelne Personen so genau charakterisiert sind, als ob es reale Vorbilder gegeben hat. Bezeichnenderweise möchte Buratti (Carlotto) in erster Linie die Ehre des Beschuldigten Magagnin (Carlotto) wiederherstellen. Aber auch die "oberen Zehntausend" bekommen ihr Fett ab.
Buratti ist der Ich-Erzähler, dadurch schreitet die Handlung kontinuierlich voran, ist eigentlich immer spannend mit einzelnen unerwarteten und auch erwarteten Wendungen. Die Sprache ist direkt, ungekünstelt, aber nie billig. Einfach aus dem Bauch heraus. Der Blues ist immer stimmungsbildend, an einer Stelle sogar ein autobiographisches Detail: Dort, wo ein Musiker zu Buratti sagt:
"Soll ich dir einen Rat geben?"
"Nein"
"Ich geb ihn dir trotzdem: Wechsle das Musikgenre. Der Blues hat deine Seele angegriffen. Du hörst die Musik nicht mehr mit dem Herzen, sondern mit der Erinnerung."
Ich bin sicher, den Namen Alligator hat Carlotto von dem berühmten Blues-Label "Alligator-Records" entlehnt, welches 1971 von dem Idealisten Bruce Iglauer gegründet wurde. Es steht u.a. für Namen wie Hound Dog Taylor, Blind John Davis, Albert Collins, Magic Slim, Roy Buchanan oder den unsterblichen Buddy Guy, und viele Andere mehr. Doch ich schweife ab. Zugegeben - manche dieser atmosphärischen Details wie Unterwelt oder Blues sind mir sympathisch. Aber als Rezensent darf ich nicht nur subjektiv sein.
Daher zum Ausgleich auch einige Schwachstellen: Die Tatsache, dass es in einer Gesellschaft Machtmissbrauch und Korruption gibt, ist weder neu noch besonders originell.
Die eingangs erwähnte Assoziation mit einem Comic-Strip beruht darauf, dass in brenzligen Situationen ständig und garantiert eine Person auftaucht, die für das jeweilige Problem die perfekte Lösung hat. Die angeblich berüchtigten Mafiakiller stehen doch als ziemliche Trottel da.
Die meist sehr gewählte Sprache Burattis kontrastiert sich oft unglaubwürdig mit dem Gangstermilieu, auch der ehemalige Krankenpfleger spricht zunächst Dialekt, dann aber bestes "Hochdeutsch".
Wieso bemerkt der sonst so gewiefte Alligator nicht sofort - im Gegensatz zum Leser - dass die Tonbandaufnahmen juristisch völlig irrelevant sind?
Wieso kann eine Lehrerin Fehler in einem Gerichtsmedizinischen Gutachten beurteilen?
Wieso erstellt ein ausländischer Professor allein aufgrund von Aussagen einer ihm fremden Person, die sich als Geschworene ausgibt, und von Prozessakten in Abwesenheit in einem abgeschlossenen Verfahren ein Gegengutachten?
Doch - wie auch immer - nimmt man manches in diesem Buch nicht so ernst, kann es einen recht gut unterhalten.
Insgesamt ist das ein spannender, kurzweiliger Krimi, dessen Unzulänglichkeiten sich nach einer Flasche Calvados und bei Musik von B.B. King zum Großteil in Luft auflösen.
Massimo Carlotto, Lichtenberg
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