Nie sollst Du vergessen
- Blanvalet
- Erschienen: Januar 2001
- 54
- München: Blanvalet, 2001, Seiten: 900, Übersetzt: Mechthild Sandberg-Ciletti
- München: Goldmann, 2003, Seiten: 900
- München: Goldmann, 2005, Seiten: 900
- München: Goldmann, 2007, Seiten: 912
Eher Familiendrama als Krimi
Wie lange habe ich mich auf das 11. Buch von Elizabeth George in der Reihe um Inspector Thomas Lynley und Sergeant/Constable Barabara Havers gefreut.
Gideon Davies ist ein sogenanntes Wunderkind. Schon in ganz jungen Jahren hat er Violinkonzerte gegeben und Musik ist sein Leben, doch eines Abends auf der Bühne kann er keinen einzigen Ton spielen. Liegt es an dem ausgewählten Stück, das er eigentlich noch nie in seinem Leben ohne Fehler zustande gebracht hat? Man spricht von in der Presse von einem Erschöpfungszustand, aber für Gideon steckt mehr dahinter. Um seine Blockade zu bekämpfen, konsultiert er die Psychiaterin Dr. Rose, die ihm rät, seine Erinnerungen an die Kindheit aufzuschreiben, die mehr als bruchstückhaft sind. Dieses Tagebuch bildet nun den Hauptteil des Romans, Stück für Stück wird die Vergangenheit von Gideon enthüllt.
Als er ein Kind war, ertrank seine kleine Schwester Sonia, die unter dem Down-Syndrom litt, unter mysteriösen Umständen in der Badewanne. Das deutsche Kindermädchen Katja Wolff kam dafür für 20 Jahre ins Gefängnis. Kurze Zeit danach verließ Gideons Mutter die Familie und brach den Kontakt zu ihm vollkommen ab. Mit Hilfe von Archivauszügen und des Staatsanwaltes im damaligen Prozeß findet er zumindest einen Anfang: Katja Wolff wurde vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen. Gideon bestürmt seinen Vater mit Fragen, doch dieser weigert sich, mit ihm über die Familie zu sprechen.
Parallel dazu gibt es einen zweiten Handlungsstrang, der jedoch alsbald mit dem Tagebuch von Gideon in Verbindung gebracht werden kann. Inspector Leach wird zu einem Unfallort gerufen. Zunächst sieht es nach Unfall mit Fahrerflucht aus, doch Leach erkennt in der Toten Eugenie Davies, die Mutter von Gideon und Sonia. Aufgrund seines Wissens, dass es eine Verbindung zwischen der Toten und seinem ehemaligen Kollegen im damaligen Fall gab (Malcolm Webberly - nun der Vorgesetzte von Lynley und Havers), wird Webberly informiert und Thomas Lynley und Barbara Havers dürfen sich in die Ermittlungen stürzen. Hat der Tod von Eugenie Davies etwas mit der Entlassung von Katja Wolff aus dem Gefängnis zu tun und warum wurde sie gerade in der Straße überfahren, in der der ehemalige Untermieter von den Davies wohnt, der schon dreimal seinen Namen wechselte?
Der eingefleischte George-Fan wird sich jetzt fragen, warum Lynley und Havers nur am Rande in dieser Beschreibung vorkommen. Ganz einfach: genau so ist es auch im Buch. Elizabeth George ist ganz von ihrer Angewohnheit abgewichen, auch die Ermittler in ihrem Roman sehr genau zu charakterisieren. Mag sein, dass sie davon ausgeht, dass die Leser dieses Wissen nicht benötigen, da sie diese schon sehr genau kennen, aber genau das hat meines Erachtens den Charme der vorhergehenden Bücher ausgemacht. Positiv kann man natürlich sagen, dass man nicht zum x-ten Mal lesen muß, welche Adelstitel Lynley abgelegt hat, warum er immer wieder Gewissensbisse hat, wenn er an seine Freunde Deborah und Simon St. James denkt, und aus welchen Verhältnissen seine Kollegin Barbara stammt. Dafür ist die Autorin in ihrer Charakterisierung Gideons um so genauer. Detailreich wird jeder Gedanke in seinem Tagebuch niedergeschrieben, kein Gefühl wird dem Leser verschwiegen, aber eben das macht das Buch auch langatmig. Ich finde, man kann es mit der Nähe zu den Figuren auch übertreiben... An dieser Stelle sei vielleicht angeführt, dass "Nie sollst Du vergessen" insgesamt 900 seiten umfaßt. Dies läßt Elizabeth George wirklich ausreichend Raum, um jeden Gedanken zu Ende zu führen und ihre Handlungsstränge nicht allzu eilig miteinander zu verknüpfen. Wie man sieht, kann man je nach Blickrichtung diesem Punkt sowohl negative als auch positive Aspekte abgewinnen.
Was die Schweden in puncto Sozialkritik im Krimi können, das kann Elizabeth George auch. Winston Nkata, der dunkelhäutige Kollege von Barbara, darf diese Mal eine größere Rolle spielen als sonst. Er wäre beinahe in seiner Jugend auf die schiefe Bahn geraten, aber nun gehört er zu den "Guten", wobei er in seinem Job natürlich einer Menge Vorurteilen begegnen muß. Er befaßt sich mit der Lebensgefährtin von Katja Wolff, die ihren Mann umgebracht hatte, da dieser sie mißhandelte. Er kann nicht leugnen, dass diese Frau eine gewisse Anziehungskraft auf ihn ausübt. Daneben läßt es sich Elizabeth George nicht nehmen, auch eine ganz Menge anderer Aspekte in die Handlung zu flechten: Katja Wolff ist vor ihrer Zeit als Kindermädchen aus der DDR geflohen, die lesbische Beziehung zu ihrem ehemaligen Mithäftling (und nun Lebensgefährtin) ist nicht gerade unkompliziert, der Großvater von Gideon war geisteskrank, Malcolm Webberly’s Ehe ist voller Probleme, der ehemalige Untermieter hat eine Vorliebe für ältere Frauen und hat nicht nur heiße Chats mit ihnen, sondern trifft diese auch zu One-night-Stands, ohne deren Identität zu kennen etc. Die Autorin schöpft da schon aus dem vollen und da sie sich - wie schon gesagt - ausreichend Platz dafür genommen hat, wirkt dies noch nicht mal überladen auf mich, was man bei der Auflistung an Details durchaus vermuten könnte. Nein, sie verbindet diese Aspekte gekonnt. An dieser Stelle möchte ich jedoch ihre Haltung zu den Deutschen kritisieren. Nicht nur einmal sind wirklich Platitüden zu lesen, wie und warum Katja Wolff so gehandelt hat: sie ist ja Deutsche... Sollte dies auch ein Teil der Sozialkritik sein, so kann man dies nur leider nicht als solche identifizieren.
Was ist noch wichtig für einen guten Krimi? Spannung. Meines Erachtens ist diese nur mäßig vorhanden. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ab wann ich die Geschichte durchschaut habe, aber im Endeffekt habe ich sie gar nicht durchschaut und doch gewußt, wer der Mörder war. Klingt das vielleicht ein bißchen zu kompliziert? Neben Katja Wolff und dem ehemaligen Untermieter kommen nur ganz wenige Verdächtige für den Mord an Eugenie Davies in Frage, somit bleibt die Täterfrage nicht bis zum Ende im Dunkeln. Beim Motiv ist das ähnlich. Aber was ist denn nun vor zwanzig Jahren wirklich passiert? Leider wurde mir diese Frage nicht vollständig beantwortet, das Ende kommt einfach wie ein Klecks Butter auf die heiße Kartoffel, die dann zerfließt. Irgendwie habe ich einen bitteren Nachgeschmack behalten und bin unzufrieden. Da habe ich schon bessere Auflösungen von Elizabeth George gelesen.
Und das ganze wird natürlich auch noch durch den Erzählstil gefördert, denn die beiden Handlungsstränge (Ermittlungsarbeit und Tagebuch) verlaufen gar nicht parallel, wie ich anfangs dachte. Gideons Tagebuch beginnt im August und umfaßt einen Zeitrum von drei Monaten, während die Ermittlungen wahrscheinlich nur eine Woche dauern, was aber kaum zu erkennen ist. Erst ganz am Ende werden diese zusammengeführt. Eine eindrucksvolle Perspektive für den Leser, welche die Geschichte einerseits interessanter macht, ihn (oder zumindest mich) andererseits auch vollkommen verwirrt. Immer wieder springen meine Gedanken hin und her: der Protagonist weiß ja noch gar nicht so viel wie ich.
Im Endeffekt hat es mich erstaunt, dass die Polizei den Fall doch noch aufklären kann. Sie hat ja eigentlich in der ganzen Handlung nur wenig zur Auflösung beigetragen... "Nie sollst Du vergessen" ist daher für mich weniger ein Krimi als eine Charakterstudie, ein Psychogramm oder ein Familiendrama...
Ich habe schon einige Wälzer in meinem Leben gelesen (z.B. habe ich das nur geringfügig weniger umfangreiche Werk "Eine Billion Dollar" in einer Woche verschlungen), aber ich habe trotz meiner Vorliebe für Elizabeth George drei Wochen am 11. Band gelesen. Und das nicht, weil ich so wenig Zeit hatte. Nein, ich hatte teilweise gar keine Lust, mich durch die ganzen Tagebucheinträge zu kämpfen und war froh, wenn die Ermittlungen mal wieder in den Vordergrund rückten. Andererseits war es ein faszinierendes Buch, das man aufgrund seiner Vielschichtigkeit wahrscheinlich gar nicht in kurzer Zeit lesen kann.
Elizabeth George, Blanvalet
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